Leben

Eine muss den Job ja machen (6) Über alle Grenzen hinweg

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Ivanka Semen hat selbst im größten Chaos immer ein Lächeln für andere übrig.

Ivanka Semen hat selbst im größten Chaos immer ein Lächeln für andere übrig.

(Foto: Thomas Humphrey)

Valentina und Ivanka leiten ein Warenlager in Lviv. Über 4700 Tonnen Hilfsgüter haben sie seit März 2022 von dort bis hinein in die Frontgebiete geliefert. Diese Frauen gehen über alle Grenzen. Auch die eigenen.

Jetzt wird es hektisch: 1059 Dosen Insulin sind im Lager in Lviv angekommen, als Spende aus den Niederlanden. Und wie oft bei Medikamenten: Kurz vor dem Verfallsdatum. Das bedeutet, dass die Medikamente sofort gekühlt gelagert werden müssen (ja, der Transport war gekühlt!), und dann müssen die Krankenhäuser abgefragt werden, wo aktuell Bedarf besteht. Das ändert sich quasi stündlich, denn alle Krankenhäuser in der Ukraine versuchen, Unterstützung aus dem Westen zu erhalten. Was wann an Hilfsgütern eintrifft, ist oft nicht planbar. Es gibt zwar so etwas wie eine zentrale Koordinierungsstelle, aber aufgrund des Krieges funktioniert sie relativ unzureichend.

Die Arbeit bringt sie oft an ihre persönliche Grenze, dennoch registriert Valentina Shpilka alles, was es zu registrieren gibt!

Die Arbeit bringt sie oft an ihre persönliche Grenze, dennoch registriert Valentina Shpilka alles, was es zu registrieren gibt!

(Foto: Thomas Humphrey)

1059 Dosen Insulin - ein Tropfen auf den heißen Stein? Überhaupt nicht. Jeder, der Diabetes, aber kein Insulin hat, freut sich über das Präparat, das lebensnotwendig ist. Und wie schon oft geschrieben: Planung im Krieg ist beinahe unmöglich. Man weiß nie, wann und wo ein Angriff erfolgt, eine Bombe explodiert und ob man den nächsten Tag überlebt. Valentina und Ivanka im Lager in Lviv sind seit März 2022 dabei. Und haben beide Angehörige und Freunde im Krieg verloren: "Mein Freund und Klassenkamerad aus Wolyn starb zu Beginn des Krieges, mein Onkel, ein Zivilist in Cherson, starb an seinen Verletzungen", erzählt die 41-jährige Valentina.

Grenzenlose Hilfe

Die Hilfsgüter kommen von Be an Angel und der amerikanischen Schwester Friends of Be an Angel. Die Hilfsgüter kommen aus den Niederlanden, aus Deutschland, den USA und sogar aus den arabischen Emiraten. Grenzenlose Hilfe.

Das Warenlager in Lviv wird betrieben von einer ukrainischen Organisation. Seit März arbeiten die Hilfsorganisationen Hand in Hand. Ein Glücksfall für Be an Angel, denn die ukrainische Organisation "For future Woman" (Жіночий рух "ЗА Майбутнє) ist unbestechlich, im ganzen Land vernetzt und nur an einem interessiert: Menschen in Not zu helfen!

Das Warenhaus in Lviv ist dabei ein zentraler Punkt: Es befindet sich etwas außerhalb des historischen Stadtzentrums in einem Industriegebiet. Lviv, nahe der polnischen Grenze, ist eine bezaubernde, historische Stadt mit Kopfsteinpflasterstraßen und mittelalterlichen Gebäuden. Lviv ist unglaublich gut erhalten (bis auf die Straßen) und liegt in der Nähe der polnischen Grenze. "Für uns ist das strategisch sehr wichtig", sagt Valentina.

4700 Tonnen, oder auch: 300.000 Dokumente

Hilfsgüter ins Land zu bringen, ist ein Kraftakt. Dokumente müssen ausgefüllt werden, und Zollpapiere müssen zu 100 Prozent korrekt sein. Spender gehen oft davon aus, dass Waren wie Medikamente, die für Krankenhäuser in der Ukraine bestimmt sind, quasi ohne Probleme durchgewunken werden. Dem ist nicht so. Abweichendes Gewicht wird penibel von den Zöllnern untersucht. Man kann nie wissen, ob nicht doch - durch russische Spione - Waffen ins Land geschmuggelt werden.

Be an Angel und Friends of Be an Angel sind bei den Grenzbeamten nach über eineinhalb Jahren bekannt, was die Einfuhr erleichtert, aber sie ist immer noch schwierig. "Für uns ist das ein Kraftakt", so die 32-jährige Ivanka. "Letztens mussten wir bis drei Uhr nachts die Papiere für eine Lebensmittelspende von 20 Tonnen neu bearbeiten, weil es einen Gewichtsunterschied von 3000 Kilo gab."

Über 4700 Tonnen Güter haben die beiden Frauen und ihr Team aus Freiwilligen mittlerweile in Empfang genommen und verteilt. Aus der Angestellten in einem Bauunternehmen und der Geschäftsfrau sind Logistikerinnen geworden, die sich mit Computersystemen auseinandersetzen müssen, Einfuhrbestimmungen und Kriegsrecht bei Importen lernten und ihr Privatleben quasi an den Nagel gehängt haben. 4700 Tonnen Hilfsgüter bedeuten ungefähr 300.000 Dokumente. "Kein Scherz", sagt Ivanka. "Alles, was im Lager ankommt, muss hier registriert werden. Dann folgt die Dokumentation, wohin es ausgeliefert wurde.“

Und die Waren selbst könnten unterschiedlicher nicht sein: Von Babynahrung über Hygieneartikel bis zu Generatoren, die ganze Krankenhäuser mit Strom versorgen können, reicht das Hilfsangebot. Gerade letzten Winter wurden über 1700 Generatoren durch Be an Angel weitervermittelt.

Kein Strom = kein warmes Wasser, kein Licht

Im Winter 2023 hat die russische Armee nicht nur zivile Einrichtungen bombardiert, sondern auch Versorgungszentren und die Energieversorgung. Viele Großstädte und Gemeinden waren tagelang völlig ohne Strom, oft gab es täglich nur für ein paar Stunden Energie. "Die Menschen, die ohne Strom leben, haben kein warmes Wasser, keine Heizung und kein Licht", erzählt Valentina. "Das ist besonders bedrohlich, wenn man Kinder oder sogar ein Neugeborenes versorgen muss", sagt die Mutter von zwei Kindern.

Daher muss es nicht nur bei einer Lieferung mit Insulin schnell gehen. Eigentlich muss es immer schnell gehen. "Im Schnitt sind die Hilfsgüter nicht länger als eine Woche bei uns im Lager. Gerade fährt ein Lkw vor, 17 Tonnen Grundnahrungsmittel. Ivanka freut sich: "Diese Sachen können länger gelagert werden und brauchen keine besondere Kühlung – das macht es für uns natürlich viel leichter."

Sie wuselt durch das 3000 m² große Lager ins Hinterzimmer, eine Sperrholzbaracke mit einem durchgesessenen Sofa und zwei Arbeitsplätzen. "Es ist zwar dunkel, und die Stromausfälle sind eine Herausforderung, aber es ist immerhin leicht zu heizen." Die beiden Frauen versuchen, abends regelmäßig nach Hause zu kommen, was nicht immer gelingt. Dann ist das durchgesessene Sofa und eine Liege wenigstens für ein Nickerchen gut. "Nicht alle sind der Belastung dauerhaft gewachsen", sagt Ivanka. "Wir hatten viele Freiwillige, die drei Monate nonstop gearbeitet haben und danach einfach nicht mehr konnten."

Humor hilft

Woher nehmen die beiden Frauen ihre Kraft? "Wir sind ein gut eingespieltes Team mit einem sehr ähnlichen Humor. Wir haben immer irgendwas zu lachen. Und wir achten aufeinander, darauf, dass jede von uns ihre Auszeit bekommt. Außerdem haben wir viel Unterstützung aus dem gesamten Team – im Sommer haben wir zum Beispiel einen jungen Mann bei uns gehabt, der täglich vor der Tür einen Grill aufgebaut hat. Das war nicht nur endlich mal etwas anderes als Tütensuppen, sondern das war auch fast wie eine friedliche Gartenparty." Ivanka lacht, während sie das sagt.

Schaut man sich vor dem Lager um, sieht man viel Beton und gesichtslose Gebäude. In einem solchen Umfeld von einer Gartenparty zu sprechen, erfordert viel Souveränität. Die haben die beiden Frauen. Grenzenlos.

Quelle: ntv.de

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