Ein schmaler GratAfrika zwischen Hunger und Covid-19

Die meisten afrikanischen Staaten haben durch frühe und strenge Maßnahmen die Corona-Pandemie bisher gut im Griff. Doch in den armen Ländern ist der Grat zwischen einem erfolgreichen Kampf gegen Covid-19 und der Gesundheit der Wirtschaft sehr schmal.
Viele afrikanische Nationen haben früh strenge Maßnahmen gegen die Verbreitung des neuartigen Coronavirus eingeführt. Weil es den Kontinent später erreichte, konnten afrikanische Regierungen von Erfahrungen der nördlichen Hemisphäre lernen. Fakt ist: "Flatten the curve" funktioniert in den meisten Ländern Afrikas gut. Der Höhepunkt der Pandemie ist noch nicht erreicht, doch die Infektionszahlen liegen weit unter allen Prognosen. Allerdings zu welchem Preis? Wie groß ist der soziale und wirtschaftliche Schaden harter Sanktionen? Eine neue Studie in 20 afrikanischen Ländern zeigt: Frühe Lockerungen könnten in Afrika weitaus wichtiger sein als der sprichwörtliche lange Atem.
In Zeiten von Corona bieten Zahlen Halt, insbesondere wenn es darum geht, die schwierige Balance zwischen gesundheitlichem und wirtschaftlichem Schutz zu finden. "Lives" und "Livelihood" nennen das die Experten der Weltgesundheitsbehörde (WHO) - Leben und Existenzgrundlage. Auf dem afrikanischen Kontinent ist der Grat zwischen den beiden um ein Vielfaches schmaler als in Europa. Und doch: Nicht das Befinden afrikanischer Bürger, sondern der "Kampf" gegen das Virus steht vornehmlich im Fokus afrikanischer Regierungen. Das birgt große Gefahren. Wer die Gefährdung der Lebensexistenz als Kollateralschaden der Corona-Krise akzeptiert, muss mit großem Widerstand rechnen - besonders in Afrika.
Es brodelt in der Bevölkerung
"Am Ende des Tages geht es um die Menschen", sagte Südafrikas Gesundheitsminister Zweli Mhkize auch heute wieder. "Nur wenn unsere Menschen gesund sind, können wir wirtschaftlich gedeihen. Die Verbesserung unserer Wirtschaftslage beginnt mit einer gesunden Bevölkerung." Südafrikas Ansicht, dass Leben retten und Existenzen erhalten aufeinander folgen und nicht parallel in Angriff genommen werden müssen, könnte das Land seinen bisher hart erarbeiteten Erfolg im "Kampf" gegen Covid-19 kosten.
In den vergangenen Tagen stieg die Zahl gewalttätiger Proteste und Überfälle auf Lebensmittelläden am Kap Afrikas drastisch an. Hinzu kommen Klagen vor Gericht gegen viele Bestandteile des von der südafrikanischen Regierung eingeführten Covid-19-Ausnahmezustands. Es brodelt in der Bevölkerung. Eine neue, in 20 afrikanischen Ländern durchgeführte Studie warnt davor, den Schaden zu unterschätzen, den sozialer Unfrieden in der Coronavirus-Bekämpfung anrichten kann.
Reserven schon aufgebraucht
"Wir sollten vorsichtig sein, nicht in ein Denken der Gegensätzlichkeit zu verfallen. Gesundheit gegen Wirtschaft, das Volk gegen die Regierung", sagt Tom Frieden, einer der Autoren einer PERC-Studie zu dem Thema. "Die Gesundheit des Menschen und der Wirtschaft müssen im Einklang sein." Laut des PERC-Netzwerks (Partnership for Evidence-Based Response to Covid-19) steigt die Zahl gewalttätiger Proteste, Plünderungen und Aufstände in afrikanischen Nationen derzeit entsprechend wachsender Infektionszahlen und Härte der Einschränkungen an - vor allem dort, wo Einkommen niedrig und Informationen rar gestreut sind.
Knapp 21.000 Menschen in 20 afrikanischen Nationen hat das Netzwerk befragt, dem auch die WHO und Afrikanische Union (AU) angehören. Im Durchschnitt - so gaben die Befragten an - reichen ihre Ersparnisse für 12 Tage, Essensvorräte für nur 10 Tage. Das heißt, ein Großteil der 1,2 Milliarden Afrikaner hat schon jetzt seine Reserven im Lockdown aufgebraucht. Deshalb werden die Proteste gewaltsamer und erhöhen zugleich das Infektionsrisiko.
Laut Africa CDC (Africa Centres for Disease Control and Prevention) gibt es derzeit offiziell 49.352 Infizierte auf dem afrikanischen Kontinent. 1959 Menschen starben an oder mit Covid-19. Die PERC-Studie sagt ausdrücklich, die Infektionszahl sei höchstwahrscheinlich wesentlich höher. Bei einer international akzeptierten Todesrate von 0,66 Prozent durch Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus läge die Zahl der Infizierten eher bei 300.000, sprich sechs Mal höher als offiziell angegeben.
Im Zweifel Märkte öffnen
"Weitere Verschärfungen der Maßnahmen treffen die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten", sagt Rebecca Moeti, WHO-Regionaldirektorin für Afrika. "Der wirtschaftliche Schaden der Pandemie in Afrika ist riesig. Es muss eine Kombination von Maßnahmen geben, darunter auch graduelle Lockerungen. Wir sind sehr besorgt über die Einschränkungen der Landwirtschaft."
Mit der Schließung der Märkte in weiten Teilen Afrikas wurde einem Großteil der Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen. Nicht nur den vielen Kleinbauern, sondern auch den Händlern, die in den Städten ihr Geld mit dem Verkauf landwirtschaftlicher Produkte verdienen. "Es muss eine Balance gefunden werden. Das ist extrem wichtig", sagt Moeti. Die Studie geht einen Schritt weiter und empfiehlt im Zweifel die Öffnung afrikanischer Märkte. "Wenn Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 die Lebensmittelversorgung der Menschen gefährden, sollten sie angepasst werden."