Panorama

Auf den Spuren der Sex-Shops Als die Erotik nach Ostdeutschland kam

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Einkaufsmöglichkeit an der L67 in Brandenburg: Neben Erotikartikeln gibt es hier auch Aquaristik-Bedarf.

Einkaufsmöglichkeit an der L67 in Brandenburg: Neben Erotikartikeln gibt es hier auch Aquaristik-Bedarf.

(Foto: Aufbau Verlage)

Viele Ostdeutsche versuchen nach der Wende ihr Glück mit Sex-Shops. Denn was vorher verboten war, boomt plötzlich. Auf die Blütezeit folgt jedoch der Niedergang. Das Buch "Provinzlust" porträtiert die letzten überlebenden Läden und mit ihnen ein fast vergessenes Stück deutsch-deutscher Geschichte.

Es ist ein einprägsames Konzept, mit dem das einsame Fachgeschäft am Rande einer südbrandenburgischen Landstraße aufwartet: "Aquaristik Shop. Sex Shop." Fische und Dildos an der L67 zwischen Herzberg/Elster und Falkenberg/Elster - das verfing auch bei der einst zufällig vorbeifahrenden Uta Bretschneider und gab den Anstoß für "Provinzlust".

Das Buch, das die Kulturwissenschaftlerin und Soziologin gemeinsam mit dem Historiker Jens Schöne verfasst hat, geht dem fast vergessenen Phänomen der inhaberbetriebenen Sex-Shops auf den Grund, die nach dem Mauerfall in allen Ecken des Ostens aus dem Boden schossen. Das Autoren-Duo war in Aschersleben und Lauchhammer, in Quedlinburg und Ilmenau, und hat sich umgeschaut und zugehört.

Patrick Heidler betreibt den Sex-Shop in zweiter Generation.

Patrick Heidler betreibt den Sex-Shop in zweiter Generation.

(Foto: Aufbau Verlage)

"In den Shops steckt jede Menge Zeitgeschichte, weil sie in der sogenannten Transformationszeit nach 1989/1990 entstanden sind", sagt Bretschneider im Gespräch mit ntv.de. In dieser Phase habe es insbesondere im ländlichen Raum einen Niedergang gegeben, viele Menschen hätten ihre Arbeit verloren und seien abgewandert. "Aber wir wollten explizit zeigen, was möglich war. Dafür hätten wir uns vielleicht auch Autohäuser oder Solarien anschauen können, aber, zugegeben, da ist ein Sex-Shop schon interessanter."

So erzählt "Provinzlust" den Wendeumbruch aus der Perspektive von Menschen, die damals ein völlig neues Geschäftsfeld ausmachten. Pornografie war in der DDR verboten und lediglich unter der Hand verfügbar, doch mit der neuen Ordnung taten sich neue Möglichkeiten auf. 1800 Sex-Shops soll es Anfang der 90er Jahre in Ostdeutschland gegeben haben, vermutlich mehr. Das hatte zwei ineinandergreifende Gründe. Einerseits ein aufflammender, post-sozialistischer Unternehmergeist, andererseits ein Nachholbedarf in der Bevölkerung: Ohnehin in Sachen Konsum, aber dezidiert auch in Sachen Erotik. Anders als im Westen hatte man keine sexuelle Revolution mitgemacht, die Liberalisierung sei deutlich kleinschrittiger verlaufen, heißt es im Buch.

"Sechsstellige Jahresumsätze"

Greifbar wird das durch Menschen wie Patrick Heidler, den Sextoy- und Zierfischhändler von der L67. Kurz nach dem Mauerfall stand die Familie da: die Mutter aus der LPG entlassen, der Vater frühverrentet, Sohn Patrick erst Wehr-, dann Zivildienstleistender. Die abgelegene Lage des heimischen Hofes betrachteten sie als Standortvorteil: Neugierige Nachbarn, die Interessenten hemmen könnten, gab es hier nicht. Im August 1990 eröffnete ihr Sex-Shop als Familienbetrieb.

Der Laden schlug ein wie eine Bombe. Die Leute hätten Schlange gestanden, erzählt Heidler im Buch, bei Preisen von 50 D-Mark für ein Heft. "Wir hatten am Anfang sechsstellige Jahresumsätze." Mit Taschen voller Bargeld seien sie zum Großhändler in den Westen gefahren, um dem Bedarf an Heftchen, Videokassetten und Wäsche gerecht zu werden. Mit fortschreitender Spürbarkeit der Transformation jedoch geriet das blühende Business ins Schlingern. Massenarbeitslosigkeit drückte auf die Kauflust, eine rettende Idee musste her. Der angrenzende Aquaristik-Shop entstand.

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Bis heute halten sich die Geschäfte gegenseitig. Im Winter werde mehr Erotik gekauft, im Sommer seien es mehr Fische, sagt Heidler. Trotz regionalem Monopol und Stammkundschaft aber mache ihm die Erotik-Konkurrenz aus dem Internet zu schaffen. Dagegen wehrt er sich, indem er Werbung macht: mit eigenen Kugelschreibern und Einkaufswagenchips und mit einem aufsehenerregenden Aufkleber auf seinem Auto. "Sex Shop Heidler. Fachgeschäft für Ehehygiene, seit 1990".

"Muss man mit sich ausmachen können"

"Fast alle, die ich getroffen habe, betrachten ihre Arbeit im Sex-Shop als normalen Verkaufsjob", sagt Bretschneider. Ein Pragmatismus, den es womöglich braucht. "Man muss mit sich ausmachen und aushalten können, dass man den ganzen Tag übergroße Dildos und DVDs mit schlimmen Covern vor Augen hat."

Auch die ehemalige Musiklehrerin Annett Mosig legt einen solchen Pragmatismus an den Tag. "Musik und Erotik haben beide etwas mit Sinnlichkeit zu tun", sagt sie im Buch. Nach Jahren beruflicher Unerfülltheit habe sie eines Morgens mit ihrem Mann am Frühstückstisch gesessen, als es ihnen wie Schuppen von den Augen fiel: Wie wär's denn mit Erotik? Das war 1993, ein Jahr später hatten sie ihren eigenen Shop in Zwickau.

Der Laden von Reinhardt und Annett Mosig in Zwickau zeichnet sich durch eine große Dessous-Auswahl aus.

Der Laden von Reinhardt und Annett Mosig in Zwickau zeichnet sich durch eine große Dessous-Auswahl aus.

(Foto: Aufbau Verlage)

Noch immer steht das Ehepaar hinter der Ladentheke und kann dabei auf jahrzehntelange Erfahrung zurückgreifen. "Die Leute benutzen mehr Spielzeug, definitiv, egal ob Männlein oder Weiblein. Und egal ob 18 oder 88, die ganze Bandbreite. Die älteren Leute, die reinkommen, sind aufgeschlossen, die jungen weniger. Da gibt es viel Halbwissen, Falschwissen, Handywissen", sagt Annett Mosig.

Aufbruchstimmung mit Hürden

Fast beiläufig geben die Anekdoten der Besitzerinnen und Besitzer Einblick in die ungewisse, Aufbruch versprechende Zeit nach dem Mauerfall. Das Misstrauen der Banken gegenüber dem Konzept Sex-Shop, das Misstrauen der westlichen Großhändler, die Ossis nichts auf Rechnung kaufen ließen, zugleich aber neue Absatzmärkte witterten. Mitarbeiter von Beate Uhse strömten im Sommer 1990 nach drüben und verteilten Hunderttausende Gratis-Heftchen vom Lastwagen aus.

Und die Anekdoten geben Aufschluss über das gesellschaftliche Verhältnis zur Sexualität: Kundenansturm zum einen und Schambehaftung zum anderen. Ein Sex-Shop mitten im Ortskern kam für viele nicht infrage - zu exponiert. Die goldene Regel: Trifft man Kunden im Alltag, grüßt man zurück, aber nicht zuerst. Die allermeisten Läden setzen auf neutrale Tüten, die keinen Rückschluss auf den Inhalt zulassen. Und in Quedlinburg berichtet ein Shop-Besitzer von Kunden, die Tausende Filmchen horten, ein unstillbares Verlangen in sich tragen.

Honecker auf der Dildo-Vitrine

Innenansicht eines Fachhandels im thüringischen Suhl.

Innenansicht eines Fachhandels im thüringischen Suhl.

(Foto: Aufbau Verlage)

"Wir haben explizit die Biografien der Menschen in den Fokus gerückt. Und im zweiten Schritt haben wir uns für die Orte und Räume interessiert", sagt Bretschneider. Das Buch sei keine reine Lektüre, sondern ein Interview-Bildband, der ein "intimes Kapitel der Nachwendegeschichte" porträtiert. Die Fotografien von Karen Weinert und Thomas Bachler zeigen ein gerahmtes Honecker-Porträt auf einer Vitrine mit Dildos, wegweisende Schilder zum örtlichen Sex-Shop, Inhaberinnen und Inhaber in ihren 50ern und 60ern, die selbstbewusst posieren. Ihren Läden haftet zwar Verruchtes an, aber die Aufnahmen zeugen zugleich von einer liebenswerten Schrulligkeit.

Die Sex-Shop-Besitzer verstehen sich als die letzten ihrer Art - aus gutem Grund. Denn so schnell wie der Boom gekommen war, ging er auch wieder vorüber. Mitte der 90er ging die erste Schließungswelle um. "Der Markt war gesättigt und der eine oder die andere vielleicht auch ernüchtert, weil man sich die Produkte anders vorgestellt und den Effekt für das eigene Sexleben größer erhofft hatte", sagt Bretschneider. Der Vormarsch des Online-Handels gab vielen den Rest. Dass sich die wenigen Übrigen über Wasser halten, liegt wohl auch an ihrer Hartnäckigkeit, vor allem allerdings an ihrem zweiten Standbein. Das kann eine Pension sein, eine Spielothek, oder eben der Fischhandel.

Am Ende verhält es sich mit Sex-Shops auf dem Land ähnlich wie mit dem restlichen Einzelhandel ebendort - sie sterben langsam aus. Währenddessen wächst in angesagten Großstadt-Milieus eine neue Generation heran. Bretschneider und Schöne besuchten auch zwei Läden in Leipzig und Berlin, die "Voegelei" und "Playstixx" heißen, auf handgemachte Sexspielzeuge setzen und sich an ein alternatives, queer-feministisches Publikum richten. Vielleicht lässt es sich auch so sehen: Die Provinzlust begeht Landflucht.

Quelle: ntv.de

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