
Selbst wer am Kriegsende noch klein war, trägt die Erinnerungen und Prägungen in sich.
(Foto: AP)
"Auf dem Wasser schwimmt eine tote Frau, den Kopf im Wasser. Ihr Rock hat sich aufgebläht." Es sind Erinnerungen wie diese, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in eine Kinderseele brannten und die bis heute gewaltige Wirkungen entfalten.
Brigitte Böhme kam 1937 in Dortmund zur Welt. Apart in Rock und Bluse gekleidet steht sie in ihrem Wohnzimmer, auf dem Kaminsims hinter sich ein Strauß weiß-roter Rosen. Sie erinnert sich an einen Kindheitstag an der Wilhelmsaue, "einem kleinen Zierteich in Berlin. Auf dem Wasser schwimmt eine tote Frau. Ihr Rock hat sich aufgebläht, der Wind weht rein und sie segelt auf dem Teich entlang".
Wolf-Dieter Glatzel ist 1941 in Berlin geboren. "Als die Russen kommen, kriecht unser Mädchen Lisbeth in die Kiste mit den Hitler-Bildern, alle Glasscheiben zerklirren." Ausdruckslos schaut Glatzel in die Kamera, die ausgewaschenen Jeans werden von Hosenträgern gehalten, hinter sich eine bunte Wand voller Figuren, Masken und Mitbringseln aus aller Welt.
Böhme und Glatzel sind nur zwei der "Kriegskinder" aus dem gleichnamigen Bildband von Frederike Helwig und Anne Waack. Insgesamt 45 Fotos sind zu sehen, dazu Erinnerungsfetzen, manchmal unfassbar brutal, oft fast banal. Vor vier Jahren begann Helwig damit, die Fotos zu machen. "Um diese Generation zu dokumentieren, weil sie in zehn Jahren nicht mehr da ist", wie sie n-tv.de erzählt.
Verschiebungen der Realität
Helwig, Jahrgang 1968, lebt schon lange in London. Die Generation, die sie porträtiert, ist auch die ihrer Eltern. Es ist die letzte Generation, die sich noch an den Zweiten Weltkrieg und die Tage und Wochen, in denen er endete, erinnern kann. "Als ich selbst Mutter wurde, habe ich begonnen, mich damit auseinanderzusetzen, wie Deutschland, das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, sich mit dieser Geschichte weiterhin auseinandersetzt", sagt sie über den Impuls für dieses Projekt.
Sicher werde noch immer über das Nazi- und Kriegsdeutschland gesprochen, aber "worüber genau"? Die Forschung legt nahe, dass es eher das eigene Leid, die Entbehrungen und Verluste sind, die thematisiert werden. "Es wird aber weniger darüber geredet, was der Großvater eigentlich gemacht hat", sagt Helwig. "Inwiefern hat jemand an dem Regime mitgewirkt, wer hat weggeschaut oder geschwiegen?"
Es sind oft winzige Verschiebungen in der Realität, die in den Familien schließlich weitergetragen werden, um die Erinnerung für alle irgendwie erträglicher zu machen. Helwig nennt das "menschlich verständlich", es helfe nur ihrer und auch den nachfolgenden Generationen nicht. Viele Menschen ihrer Generation kämpften mit Scham und Schuld, ohne zu wissen, warum. "Häufig kommt das aus dem transgenerationalen Erinnern." Ihre Eltern und die unzähliger anderer Menschen seien "in diese Gesellschaft des Nationalsozialismus hineingeboren und haben von ihren Eltern viel von diesem Gedankengut mitbekommen." Sie seien nicht nur Kriegskinder, sondern allermeist Nazi-Kinder und oft eben auch Täter-Kinder. "Das war mir nicht unbedingt bewusst und vielen anderen vielleicht auch nicht."
Große Leerstellen
Das Buch besteht aus drei Teilen: Helwigs Fotos, den anekdotischen Erinnerungen, die Anne Waack aufgezeichnet hat, und einem ausführlichen Vorwort von Alexandra Senfft, der Enkelin des SA-Mannes Hanns Ludin, der als Hitler-Gesandter in der Slowakei für den Tod von über 60.000 deportierten Juden verantwortlich war.
Senfft schreibt von der großen Schwierigkeit, jener Generation gerecht zu werden, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust selbst nicht zu verantworten hatte, sich aber vom "destruktiven Erbe" ihrer Eltern kaum gelöst hätte. Die entmachteten Frauen, die abwesenden Väter und die "parentifizierten Kinder", die als Mütter und Väter ihrer eigenen Eltern funktionierten, hinterließen in vielen Familiengeschichten verheerende Muster wie "Selbstkasteiung, Gefühlskälte, Abwertungsrhetorik, rigorose Erziehungsmethoden, unsoziales Verhalten oder politisch extremistische Haltungen". Je weniger davon verständlich wird, desto größer ist die Gefahr des zwanghaften Wiederholens, sagt Senfft, die selbst mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte noch nicht fertig ist.
Helwig wollte ihrem Sohn nicht den gleichen emotionalen Ballast hinterlassen. Auf die in kleinen Zeitungen geschalteten Anzeigen meldeten sich mehr Menschen, als sie für möglich gehalten hatte. "Viele haben ein Bedürfnis, diese Geschichten zu erzählen oder wenigstens überhaupt mal darüber zu sprechen", erinnert sie sich an die Reaktionen beispielweise in Dresden. "Viele haben auch gesagt, es interessiert sich ja niemand dafür."
Im Buch bleiben große Leerstellen, der Leser erfährt nichts aus der Familiengeschichte, über die Eltern der Abgebildeten, deren Rolle und Schicksal in Nazideutschland. Zu sehen sind Menschen in ihren 80ern in ihren Häusern oder Gärten der Bundesrepublik von heute. Wenn es nach Helwig geht, kommt der eigentliche Prozess beim Durchblättern des Buchs erst in Gang. "Eigentlich will man viel mehr wissen, hoffe ich. Und dann in seiner eigenen Familie Fragen stellen."
Quelle: ntv.de