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Wende im Fall Orlandi? Der Vatikan und das verschollene Mädchen

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Emanuela Orlandi ist seit 40 Jahren vermisst.

Emanuela Orlandi ist seit 40 Jahren vermisst.

(Foto: dpa)

Die römische Staatsanwaltschaft nimmt zum dritten Mal Ermittlungen zum Verschwinden der 15-jährigen Emanuela Orlandi vor 40 Jahren auf. Und zum ersten Mal ist der Vatikan bereit, an diesen mitzuarbeiten.

Am 22. Juni werden es genau 40 Jahre sein, seit Emanuela Orlandi, damals 15 Jahre alt, wie vom Erdboden verschluckt in Rom verschwand. Jetzt gibt es aber eine Wende, die vielleicht wirklich dazu führen könnte, das Rätsel Orlandi zu lüften. Die römische Staatsanwaltschaft hat nämlich vor einigen Tagen mitgeteilt, die Ermittlungen wieder aufnehmen zu wollen. Die eigentliche Neuigkeit ist dabei, dass sie dafür erstmals mit dem Vatikan zusammen arbeiten wird.

Emanuela Orlandi verschwand auf dem Heimweg in den Vatikanstaat, wo ihre Familie lebte: Die Tochter eines Vatikan-Angestellten hatte in der Nähe der Basilika Sant'Appollinare ihre Querflötenstunde. Zwei Ermittlungen wurden von der römischen Staatsanwaltschaft aufgenommen. Die erste 1983, gleich nach ihrem Verschwinden, wurde wegen des Mangels an Ergebnissen 1997 ad Acta gelegt. Die zweite wurde 2008, nach der Selbstanzeige eines Fotografen eingeleitet. Er hatte den Ermittlern geholfen, Emanuelas Querflöte zu finden. Doch auch diese Untersuchung ergab keine relevanten Ergebnisse und wurde 2015 eingestellt. Man hätte die Hilfe des Vatikans benötigt, um so mancher Spur nachgehen zu können. Doch der weigerte sich.

Wojtyla und Ratzinger verwehrten interne Ermittlungen

Die Familie gab aber nicht auf. Emanuelas Mutter ist heute 93 Jahre alt ist und lebt noch immer in der Wohnung, in die Emanuela nicht mehr zurückgekommen ist. 2018, zum 50. Geburtstag ihrer Tochter, schrieb sie einen offenen Brief an die Tageszeitung Corriere della Sera, in dem stand: "Wir haben dich all diese Jahre gesucht und werden dich weiter suchen. Solange wir Kraft und Atem haben, wirst du immer unser erster Gedanke sein."

Pietro Orlandi (mitte) sucht bis heute nach seiner Schwester.

Pietro Orlandi (mitte) sucht bis heute nach seiner Schwester.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Für ihren Bruder Pietro wurde es zu einer Lebensaufgabe. Wann und wo immer sich die Gelegenheit bot, war er zur Stelle, um an den Fall Emanuela Orlandi zu erinnern, nie hörte er auf, Ermittler und vor allem den Vatikan dazu zu drängen, endlich zu sagen, was man wusste. Er sprach auch mehrmals von einer Mappe im Büro von Ratzingers Privatsekretär Georg Gänswein, auf dem der Name Emanuela Orlandi gestanden haben soll. Gänswein hat dies aber immer bestritten .

Weder bei Papst Johannes Paul II. noch bei Papst Benedikt XVI. fand er jedoch Gehör. Um so überraschter war er deshalb, als am 9. Januar dieses Jahres die Nachricht kam, Papst Franziskus habe den vatikanischen Hauptstrafverfolger Alessandro Diddi mit den Ermittlungen im Fall Orlandi beauftragt und ausdrücklich gefordert, man solle alles Menschenmögliche unternehmen, damit die Wahrheit endlich ans Licht komme.

Und jetzt die Ankündigung, die römische Staatsanwaltschaft und der vom Vatikan mit dem Fall beauftragte Diddi werden zusammenarbeiten. Kommt die Wahrheit über dieses vom Vatikan jahrzehntelang strengstens gehütetes Geheimnis jetzt wirklich heraus?, lautet die Frage, die sich stellt.

Bewegung in der Sache hat es immerhin schon gegeben. Pietro Orlandi wurde Mitte April als Zeuge zu Diddi geladen. Über sieben Stunden dauerte das Treffen. Am Ende zeigte sich Orlandos Rechtsanwältin Laura Sgrò verhalten hoffnungsvoll. "Ich denke, der Hauptstrafverfolger wird sich jetzt mit dem Schreiben und den anderen Dokumenten, die wir ihm ausgehändigt haben, intensiv beschäftigen."

Der Vatikan soll der römischen Staatsanwaltschaft schon Dokumente übergeben haben, heißt es in den Medien. Es handle sich dabei um eine von der Familie Orlandi 2021 verfasste Denkschrift, in der es um Aussagen des Staatsanwalt Giancarlo Cataldo geht, der bis 2015 im Fall Orlandi ermittelte. Cataldo hatte in mehreren Fernsehsendungen behauptet, zwei Vatikanvertreter kennengelernt zu haben, die ihm versprachen "Emanuelas Grabstätte zu verraten".

Warum jetzt, kurz nach Ratzingers Tod?

Könnte das wirklich eine neue Spur sein? Oder ist es, wie in so vielen anderen Fällen in diesen vier Jahrzehnten, nur ein Köder, dem man nachgeht und dann fallen lässt? Sicher ist, dass auch diese Fährte den Verdacht dunkler Machenschaften und Intrigen im Vatikan nährt. Es war die Rede von kriminellen Verwicklungen, von Schwarzgeldern der Vatikanbank IOR, auch über Erpressungen und ein Pädophilie-Delikt wurde spekuliert und sogar ein Grab in der Basilika Sant'Appollinare geöffnet, weil es hieß, darin befänden sich die sterblichen Überreste des Mädchens. Die Geschichte ist so verworren und verstrickt, dass Netflix daraus sogar die vierteilige True-Crime-Story "Vatican Girl" machte. Darin berichtete eine Freundin, Emanuela habe ihr eine Woche vor ihrem Verschwinden anvertraut, dass sie in den vatikanischen Gärten von einem Vertrauten des damaligen Papstes Johannes Paul II. belästigt worden sei.

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Ob die Wahrheit über Emanuela Orlandi eines Tages wirklich ans Licht kommen wird, kann niemand sagen. Dafür beschäftigt Medien und Vatikanexperten zusätzlich zu all den offenstehenden Fragen eine neue "Kollateralfrage": Warum hat sich Papst Franziskus so kurz nach Ratzingers Tod entschlossen, öffentlich mitzuteilen, dass der Vatikan Ermittlungen zu diesem Fall aufnehmen wird? In einem Fernsehinterview kurz nach dieser Meldung, erzählte Rechtanwältin Sgrò, dass sie schon vor einem Jahr ein Schreiben aus dem Vatikan erhalten habe, in dem es hieß, man solle sich bitte an den Hauptstrafverfolger Alessandro Diddi wenden. "Damals weigerte sich jedoch dieser, uns zu treffen."

Für Pietro Orlandi liegt die Antwort auf die Frage - "Warum jetzt?" - auf der Hand. Er sei sich sicher, "dass es im Vatikan viele, auch hohe Geistliche gibt, die wissen, was damals passiert ist". Darunter sind seiner Meinung nach auch der verstorbene Papst Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein. Und zu letzterem ist die Beziehung von Papst Franziskus nicht die beste. Gänswein gehört zum konservativen Flügel des Vatikans, der sich mit dem Papst aus Argentinien nie wirklich anfreunden konnte.

Quelle: ntv.de

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