Sechster Tag im Dramé-Prozess Die Angst der Polizisten vor dem Jugendlichen mit dem Messer


Der angeklagte Polizeibeamte (2.v.r.), der geschossen hat, sitzt neben seinem Anwalt im Gerichtssaal des Landgerichts Dortmund.
(Foto: Stephan Uersfeld)
In dem erneut voll besetzten Gerichtssaal 130 im Dortmunder Landgericht werden am sechsten Verhandlungstag im Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé erstmals zwei Polizisten vernommen. Das Bild des Tatablaufs verfestigt sich. Die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit verfestigten sich.
Der sechste Verhandlungstag im Prozess um den von Polizisten herbeigeführten Tod von Mouhamed Dramé begann mit einer Überraschung am Dortmunder Landgericht. "Wir werden heute einige Bilder zeigen", sagte der Vorsitzende Richter Thomas Kelm. Das sei zwar nicht so relevant, doch womöglich notwendig. "Dass Sie nicht denken, wir würden hier einen Geheimprozess führen", sagte er und zeigte sich später zwar erst nicht besonders technisch versiert, doch die Bilder vom Tatort waren dann wirklich im Saal 130 des Gerichtsgebäudes zu sehen. Darum hatte es an den vergangenen Verhandlungstagen immer wieder Diskussionen gegeben.
Sie verschaffen der Öffentlichkeit Klarheit über die Örtlichkeit in der Dortmunder Nordstadt. Am Ende des Verhandlungstages ergibt sich dadurch für alle klare Standbilder von der Position der Beteiligten bei dem Einsatz. Wie sich zeigt, hatte sich Dramé in einer Nische befunden, in der sogar die Verteidiger mit bestem Willen kaum einen anderen Ausweg für das spätere Opfer erkennen wollten, als den Weg, den die Angeklagten dann womöglich als Bedrohung empfunden haben. Zwei Seiten waren durch eine Kirchmauer versperrt, die andere durch einen Zaun, der kaum zu übersteigen war. Der 16-Jährige starb, nachdem er seine Position in der Nische nach dem Einsatz von Pfefferspray aufgegeben hatte.
Der imposante Saal 130 im Dortmunder Landgericht mit seinem Kronleuchter und den Stadtwappen in den Fenstern war erst kürzlich im Dortmunder Tatort auch zu TV-Ehren gekommen. An diesem Mittwoch ging es jedoch um das echte Leben und die Frage, was am 8. August 2022 zum Tod des 16-jährigen Senegalesen Dramé geführt hatte. Er starb durch Schüsse aus einer Maschinenpistole der Polizei. Die war zu dem Einsatz in der Dortmunder Nordstadt gerufen worden, weil sich der gerade erst nach Dortmund gekommene Dramé an einer Kirchenmauer stehend in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Holsteiner Straße in Dortmund in womöglich suizidaler Absicht ein Messer an den eigenen Bauch gehalten hatte.
Prozess zieht sich bis in den Herbst
Als die Betreuer der Einrichtung nicht mehr weiterwussten, riefen sie die Polizei. Innerhalb weniger als einer halben Stunde eskalierte die Situation derart, dass Dramé von den Geschossen aus der Maschinenpistole tödlich getroffen und an den Händen fixiert in einen Rettungswagen gebracht wurde. Im Krankenhaus erlag er seinen schweren Verletzungen. Was in diesen knapp 30 Minuten passierte, ist Gegenstand des Gerichtsprozesses, der nicht, wie ursprünglich geplant, schon Mitte April endet, sondern nun bis in den Früh-Herbst terminiert ist.
Fünf Polizisten müssen sich für den Tod von Dramé verantworten. Sie sind wegen Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und Anstiftung zu den gefährlichen Körperverletzungen angeklagt. Die drei Polizisten und zwei Polizistinnen sitzen seit Mitte Dezember 2023 auf der Anklagebank und haben sich bis jetzt nicht zum Tatgeschehen geäußert. Das werde sich im späteren Verlauf des Prozesses ändern, hatten die Verteidiger Ende Januar angekündigt.
Am 28. Februar 2024 war es noch nicht so weit. Nachdem am letzten Verhandlungstag vier Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung vernommen wurde, sagten nun zwei andere Beamte aus. Sie waren als erste Einsatzkräfte am späteren Tatort. Die zur sogenannten Einsatzgruppe Nord gehörenden Kevin S.-F. und Max P. waren an diesem Tag als Zivilpolizisten mit dem Rad am Drogenschwerpunkt Nordmarkt unterwegs und erreichten den späteren Tatort früh. Dort sollten sie die Situation aufklären, und fanden sich bald darauf mitten in dem tödlich verlaufenden Einsatz wieder.
"Als wenn er durch mich durchgucken würde"
"Ich habe mich anderthalb Jahre auf meine Aussage vorbereitet", sagte der Zeuge S.-F., nachdem er sehr detailliert und strukturiert den Ablauf des Einsatzes aus seiner Sicht geschildert hatte. Erst bei den Nachfragen hakte es dann ein wenig. Er hatte sich auf die Schilderung vorbereiten können, aber eben nicht auf den Prozess. S.-F. habe sich Dramé genähert, um mit ihm auf Spanisch Kontakt aufzunehmen. Der Jugendliche, erst wenige Wochen in Deutschland und wenige Tage in Dortmund, sprach kein Deutsch, aber womöglich Spanisch oder Französisch, sei ihm gesagt worden, führt er aus.
Die Kontaktaufnahme sei unmöglich gewesen, auch nachdem er sich in kurzer Distanz auf die Höhe des gebeugt stehenden Jugendlichen begeben habe. "Als wenn er durch mich durchgucken würde", berichtete er und beschrieb dann die Eskalation des tödlichen Einsatzes aus seiner Sicht.
Es habe von der Polizei gegenüber dem Jugendlichen keinerlei Androhungen zum Einsatz von Pfefferspray, Taser und Maschinenpistole gegeben, sagt S.-F. Doch er selbst sei über die Möglichkeit informiert worden und habe sich daraufhin zurückgezogen. Dann habe der Dienstgruppenleiter H. einen entsprechenden Befehl erteilt. Und die letzten Minuten im Leben des 16-Jährigen begannen.
Zeuge unterschritt den Mindestabstand
Immer wieder wird an diesem Vormittag im Dortmunder Landgericht deutlich, wie groß die Angst der Polizei vor dem mutmaßlichen Angreifer mit dem Messer vielleicht gewesen sein könnte. Dabei schien die Lage, wie der Anwalt der Nebenklage, Thomas Feltes, immer wieder nachhakt, eine statische Situation zu sein. Von Dramé ging womöglich keine Gefahr gegen andere Personen aus. Was auch die Handlungen des Zeugen S.-F. nahelegen.
Der hatte sich in eine Gefahrensituation begeben, um Kontakt mit Dramé aufzunehmen, war ihm recht nahe gekommen und hatte bei dem minutenlagen Versuch der Kontaktaufnahme zwischenzeitlich auch mal gehockt. Er habe die Situation als eher bedrohlich für Dramé empfunden, was nicht ausschließt, "dass ich mich auch bedroht gefühlt habe".
Trotzdem habe er die sogenannte 7-Meter-Regel unterschritten, die besagt, dass innerhalb dieser Distanz ein möglicher Messerangriff mit Verletzungen oder gar mit dem Tod des Polizisten enden könne. "Wenn wir den Mindestabstand unterschreiten, können wir nicht reagieren", erklärte S.-F. An diesem Tag musste er nicht reagieren. Der Einsatz begann erst nach seinem Rückzug in sicherere Entfernung.
Dramé nach tödlichen Schüssen fixiert
Nach dem Einsatz der ersten Waffe, dem Pfefferspray, ging alles schnell. Ob der Einsatz von Pfefferspray aufgrund der Dienstanweisungen berechtigt war, darauf wollte der beinahe im militärischen Ton antwortende Zeuge S.-F., der "negativ" anstatt "nein" sagte, nicht antworten. "Das ließe sich nachlesen", sagte er nur.
Es wurde eingesetzt. Auf dem Hof habe sich das Pfefferspray über Dramé ergossen, erklärte S.-F. zum Ablauf der Tat. Die Person habe sich nach einer kurzen Verzögerung aufgerichtet. Sie sei dann "raschen Schrittes" gelaufen, erklären beide Zeugen. Weit lief er nicht. Nach zwei bis vier Metern, die Dramé kaum einsehbar hinter einem Smart absolvierte, kamen die "Knallgeräusche". Denn schon nach kürzester Zeit hörten beide Zeugen diesen von Tasern und Maschinenpistole ausgelösten Lärm. Den Schützen und jetzigen Angeklagten S. hätten sie vorher nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, sagten sie. Beide hatten auch nicht an der Einsatzbesprechung teilgenommen.
Nach den Schüssen habe sich P. mit dem Dienstgruppenleiter H. auf dem Boden liegenden Dramé begeben, sagt P., der als zweiter Zeuge befragt wurde. H. habe sich dabei mit dem Knie auf die Schulter gestemmt, um den Jugendlichen zu fixieren. Der habe mit den Armen und Beinen um sich geworfen. "Es ist denkbar, dass er in der Situation Schmerzen hatte", erklärt P. darauf angesprochen, dass Dramé sich vielleicht überhaupt nicht seiner Fixierung habe widersetzen wollen, sondern schlichtweg mit dem Tode gerungen habe.
Ein gelungener Einsatz?
"Es war im Prinzip eine Widerstandshandlung gegen die Fixierung", sagt P. und wird dabei auch von zwei Brüdern des Verstorbenen beobachtet. Sidy und Lassana Dramé halten sich seit Ende Januar in Dortmund auf, um dem Prozess beizuwohnen. Bei den Schilderungen des Ablaufes kämpft besonders Sidy immer wieder mit den Tränen. Sie werden auch am kommenden Mittwoch wieder am Dortmunder Landgericht sein. Dann geht der Prozess mit der Befragung dreier weiterer Polizisten weiter.
Ob es denn ein gelungener Einsatz gewesen sei, wird Zeuge P., der als zweiter Polizist befragt wurde, zum Abschluss des sechsten Verhandlungstages gefragt. Es sei ein Mensch zu Tode gekommen, sagt der. Deswegen sei es schwierig, den Einsatz gelungen zu nennen. Auf der anderen Seite sei die von der Person ausgehende Gefahr abgewendet worden. Deswegen sei der Einsatz, der aus der Sicht des Zeuges P. nicht anders hätte ablaufen können, schon auch gelungen. Ob der Einsatz genau so ablaufen musste und ob die Angeklagten womöglich aus Notwehr gehandelt haben, darüber sollen die restlichen Verhandlungstage bis in den Herbst hinein Aufschluss geben.
Quelle: ntv.de