Kaum Prozesse bei Polizeigewalt Warum der Fall Dramé ein Wendepunkt sein könnte


Was ist bei dem Polizeieinsatz im August 2022 geschehen? Den Angehörigen von Dramé geht es vor allem um eine Antwort auf diese Frage.
(Foto: S. Uersfeld)
Es gibt zahlreiche Ermittlungen gegen Polizisten, doch vor Gericht landen sie so gut wie nie. Der Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé bricht gleich aus mehreren Gründen mit der bisherigen Praxis: Die Anklage lautet auf Totschlag - und im Fokus steht die Frage, ob ein ganzer Einsatz rechtswidrig war.
Der Strafprozess um den Tod von Mouhamed Dramé könnte so etwas wie ein Wendepunkt in der deutschen Justizgeschichte sein. Fünf Polizistinnen und Polizisten müssen sich vor dem Landgericht Dortmund für jenen Einsatz am 8. August 2022 verantworten, bei dem der 16-Jährige starb. Wenn Beamte einer Straftat verdächtigt werden, muss der Staat selbstverständlich auch gegen sie ermitteln. Die Behörden selbst betonen stets das gesetzlich verankerte Legalitätsprinzip: Jede Straftat wird verfolgt - unabhängig von der Person des Verdächtigen. Eine Art Sicherung gegen Willkür. Und doch verlaufen auffallend viele Verfahren gegen Polizeibeamte im Sande. Ob die Gewalt eines einzelnen Beamten unverhältnismäßig war oder möglicherweise ein ganzer Einsatz aus dem Ruder lief, wird nur selten abschließend aufgeklärt. Es scheint, als würde der Fall des jungen Geflüchteten nun mit dieser Praxis brechen.
Der Jugendliche lebte zum Zeitpunkt seines Todes gerade einmal sieben Tage in einer Wohngruppe in Dortmund, er war zuvor aus dem Senegal nach Deutschland geflohen. Am besagten Tag im August rief sein Betreuer die Polizei. Er sorgte sich um Dramé, der suizidal gewesen sei und sich ein Küchenmesser vor den Bauch gehalten habe. Insgesamt zwölf Polizisten eilten zu der Jugendhilfeeinrichtung, bevor die Situation eskalierte. Der Staatsanwaltschaft zufolge sprachen die Beamten den 16-Jährigen zunächst an, dann setzten sie Pfefferspray gegen ihn ein. Als sich Dramé anschließend auf sie zubewegte, soll es zweimal zum Tasereinsatz und schließlich zu den tödlichen Schüssen mit der Maschinenpistole gekommen sein.
Seit Dezember 2023 sitzen fünf der Einsatzkräfte auf der Anklagebank: Jeannine Denise B., Pia Katharina B. und Markus B. müssen sich wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt verantworten. Ihrem Dienstgruppenleiter Thorsten H. wird Anstiftung dazu vorgeworfen. Bleibt noch Fabian S., der Schütze. Kommt es nach einem tödlichen Polizeieinsatz zu einer Anklage, lautet diese oft auf Körperverletzung mit Todesfolge. Damit schließt regelmäßig schon die Staatsanwaltschaft aus, dass der Beamte die tödlichen Folgen seiner Maßnahme erkennen konnte und in Kauf genommen hat. Im Fall von S. ist das anders. Der 30-jährige S. ist wegen Totschlags zum Nachteil von Mouhamed Dramé angeklagt.
"Nagelprobe" für die deutsche Justiz
"Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass in einem Verfahren gegen fünf Polizeibeamte Anklage wegen eines Tötungsdeliktes erhoben wird", sagt Strafverteidiger Thomas Feltes im Gespräch mit ntv.de. "Deswegen wollte ich mit dabei sein." Im Prozess vertritt er Familienmitglieder von Dramé, die als Nebenkläger auftreten. Allerdings ist der 73-Jährige, der sich seit mehr als zehn Jahren mit Polizeigewalt beschäftigt, auch für die großen Linien des Verfahrens zuständig. "Ich sehe meine Aufgabe hier auch darin, für möglichst viel Transparenz zu sorgen." Denn Strafprozesse dienen auch dazu, der Öffentlichkeit klarzumachen, was wirklich geschehen ist. "Das gelingt jedoch nicht immer."

Thomas Feltes vertritt Familienmitglieder von Dramé, die im Prozess als Nebenkläger auftreten. Der Strafverteidiger beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit Polizeigewalt.
(Foto: IMAGO/Revierfoto)
Gerade in diesem Prozess will der Strafrechtler daher Druck aufbauen. So bezeichnet Feltes den Fall um den Tod von Mouhamed Dramé als "Nagelprobe" für das deutsche Justizsystem im Umgang mit Polizeigewalt. Die Ermittlungen seien "optimal" verlaufen, Polizei und Staatsanwaltschaft hätten alle Möglichkeiten zur Erforschung eines Tötungsdelikts ausgeschöpft. "Nun kommt es darauf an, was das Gericht damit anfängt", sagt Feltes. Es gehe nicht darum, dass es zwingend zu Verurteilungen kommt. "Aber die Kammer muss es schaffen, das Geschehen so aufzuarbeiten, dass alle verstehen, was am 8. August 2022 passiert ist."
An diesen Punkt kommt die Justiz in Verfahren gegen Polizeibeamte nur selten. Das zeigt eine Studie des Forscherteams um den Kriminologen Tobias Singelnstein an der Goethe-Universität Frankfurt aus dem vergangenen Jahr. Demnach werden mehr als 90 Prozent aller Ermittlungsverfahren bei Verdacht auf unrechtmäßige Polizeigewalt wieder eingestellt. In gerade einmal zwei Prozent kommt es zu einer Anklage. Zum Vergleich: Im Durchschnitt landen 22 Prozent aller Verfahren vor Gericht. Wie selten Gerichtsverfahren gegen Polizisten tatsächlich sind, verdeutlicht auch ein Blick auf die absoluten Zahlen: 5043 Ermittlungsverfahren gab es laut dem Statistischen Bundesamt 2022 gegen Beamte. Vor dem Amtsgericht endeten nur 96 dieser Fälle.
Gewalt erlaubt - in engen Grenzen
Nun ist ein Teil des Ungleichgewichts zwischen Verdachtsfällen und Anklagen sicherlich mit unberechtigten Anzeigen zu erklären. Wegen des Ermittlungszwangs lösen auch abwegige Vorwürfe gegen Beamte zunächst einmal ein Verfahren aus, das dann nach kurzer Zeit wieder eingestellt wird, wenn der Vorwurf offensichtlich unbegründet war. Allerdings ist diese Begründung laut dem Team von Kriminologe Singelnstein nur eine Seite der Medaille. Die niedrige Anklagequote sei demnach auch auf "strukturelle Besonderheiten" zurückzuführen.
So gibt es in Deutschland keine unabhängigen Stellen für polizeiinterne Ermittlungen. Diese liegen weiterhin in der Hand der Staatsanwaltschaft, durchgeführt werden sie von Polizisten. Für die Beteiligten bedeutet das, unter Kollegen zu ermitteln. Das ist nicht nur eine enorme Belastung, wie die Studie verdeutlicht. Vor allem gehe es zulasten der Neutralität.
Die Forschenden sprechen den Beamten etwa eine gewisse Deutungsmacht zu. Diese ist - gerade bei Verdachtsfällen von Polizeigewalt - oft maßgeblich. So geht es regelmäßig weniger um die Frage, ob Gewalt angewendet wurde, sondern darum, ob diese gerechtfertigt war. Zwangsmittel gehören zur polizeilichen Tätigkeit, in engen Grenzen dürfen Beamte Gewalt einsetzen. Entscheidend ist allerdings, ob dieser Einsatz im konkreten Fall verhältnismäßig war.
Beamte haben Deutungsmacht
Die Regel lautet, entsprechend der Situation stets das mildeste Mittel zu wählen - die Hürden steigen mit der Intensität der Zwangsmittel. Für den Einsatz der Schusswaffe liegt die Latte damit enorm hoch: Gerechtfertigt ist der Schuss nur dann, wenn Menschenleben in Gefahr sind, um einen bewaffneten Täter von einem Verbrechen abzuhalten oder als ultima ratio, wenn alle milderen Mittel versagt haben.
Was sich in Abstraktheit zu verlieren droht, macht deutlich: In den meisten Verdachtsfällen von Polizeigewalt geht es um die Bewertung von Bedrohungslage und Maßnahme. Einen Spielraum gibt es dabei nicht - die Gewaltanwendung kann nur verhältnismäßig oder unverhältnismäßig gewesen sein. Allerdings gibt es unterschiedliche Perspektiven. Während Betroffene eine Maßnahme eher für ungerechtfertigt halten, gehen die Beamten selbst regelmäßig vom Gegenteil aus. Es steht also Aussage gegen Aussage. In diesen Fällen sei es für die Justiz oft "naheliegender, die polizeiliche Sicht- und Deutungsweise zu übernehmen", schreiben die Kriminologen um Singelnstein. Wenn die Maßnahmen damit als gerechtfertigt beurteilt werden, gibt es keinen hinreichenden Tatverdacht. Damit ist eine Anklage hinfällig.
Deutlich wird, wie essenziell weitere Beweismittel für eine Fortführung des Verfahrens gegen Beamte sind. Im Fall von Mouhamed Dramé konnte die Staatsanwaltschaft auf eine Reihe solcher zurückgreifen: Neben einem Funkprotokoll und einer Aufzeichnung des Notrufs gibt es einen Sozialarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung, der das Geschehen beobachtet hat. Zudem waren neben den Angeklagten noch sieben weitere Beamte vor Ort. Inwieweit diese Zeugen vor Gericht aussagen oder ob sie sich, wie häufig in solchen Fällen, auf Erinnerungslücken berufen, wird sich im Laufe des Prozesses herausstellen.
"Man hat auf die schnelle Lösung gesetzt"
Die Verteidigung des Angeklagten S. betonte zu Prozessbeginn, dass sein Mandant die Situation, in der Dramé auf die Beamten zulief, als "bedrohlich" empfunden habe. Die Anklage ist hingegen felsenfest davon überzeugt, dass keine Notwehr- und Nothilfelage vorlag - und zwar den gesamten Einsatz über. So sei schon das Einsetzen von Taser und Pfefferspray unverhältnismäßig gewesen, erklärte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert.
Für Feltes liegt hier der zweite Punkt, der den Strafprozess um den Tod von Dramé so besonders macht. Denn gewöhnlich stehen in Polizistenprozessen das Fehlverhalten oder die Fehlentscheidung einzelner Beamter im Fokus. "Hier geht es hingegen um einen ganzen Einsatz, der massiv schiefgelaufen ist", fasst es Feltes zusammen.
Dem Nebenklagevertreter zufolge liegt der Fehler des Polizeieinsatzes weit vor dem Einsatz der Schusswaffe. "Man hat die Lage einfach nicht stabil gehalten." Dem Verteidiger zufolge hätten die Beamten den Innenhof, in dem der 16-Jährige saß, absperren und auf psychologische Unterstützung und möglicherweise das Sondereinsatzkommando warten können. "Man hat stattdessen auf die schnelle Lösung gesetzt. Und genau das ist in all diesen Fällen der falsche Weg."
Ob die Beamten bei ihrem Einsatz in der Dortmunder Nordstadt am 8. August 2022 tatsächlich einen falschen Weg eingeschlagen haben, oder ob es eine Bedrohungslage durch Dramé gab, die ihr Handeln rechtfertigte, muss das Gericht entscheiden. Noch steht die Kammer am Anfang der Beweiswürdigung, kommende Woche werden Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung vernommen, in der Dramé lebte. Bis zum Urteil gilt für alle Angeklagten die Unschuldsvermutung. Unabhängig von einer möglichen Bestrafung gehe es den Angehörigen von Dramé wie so vielen Opfern in erster Linie um die öffentliche Aufklärung des Geschehens, erklärt Feltes. Was gerade in Verdachtsfällen von Polizeigewalt selten gelingt, hat vor dem Landgericht Dortmund nun eine echte Chance.
Quelle: ntv.de