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"Die Koks-Broker" Kronzeuge oder Verräter - Ex-Mafiosi packen aus

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In San Giovanni a Teduccio, einem Vorort von Neapel, wurde im Juni ein Mann getötet. Die Polizei verdächtigt die örtliche Camorra.

In San Giovanni a Teduccio, einem Vorort von Neapel, wurde im Juni ein Mann getötet. Die Polizei verdächtigt die örtliche Camorra.

(Foto: picture alliance / ipa-agency)

Die Aussagen des Mafioso Buscetta zwangen einst die sizilianische Cosa Nostra in die Knie. Heute ist es der kalabrische Mafioso Pasquino, der die Kriminellen nicht nur in Italien, sondern auch in Brasilien zittern lässt.

Brasilien scheint den italienischen Mafiosi immer wieder zum Verhängnis zu werden. Ende 1983 wurde Tommaso Buscetta von den brasilianischen Sicherheitskräften in São Paulo festgenommen. Der gebürtige Palermitaner gehörte damals zu den ranghöchsten Mitgliedern der sizilianischen Cosa Nostra und wusste daher vieles.

Im März 2021 nahmen die brasilianischen Sicherheitskräfte, wieder in São Paulo, Vincenzo Pasquino fest. Anders als Buscetta gehört der 34-jährige Pasquino der kalabrischen Mafia, also der 'Ndrangheta an. Wie sein palermitanischer Vorgänger soll auch er über sehr interessantes Insiderwissen verfügen.

Der Koks-Broker

Buscetta hatte sich während seines offenen Vollzugs in einer Strafanstalt in Turin samt Frau und einigen seiner vielen Kinder aus dem Staub gemacht und wieder in Brasilien, wo er schon früher gelebt hatte, niedergelassen. Pasquino war stattdessen nach Brasilien geschickt worden. Er war so etwas wie ein Broker und Verbindungsmann im Drogengeschäft zwischen der Zentrale in Kalabrien und den Kokain-Lieferanten in Südamerika. Außerdem kümmerte er sich um die Verschiffung der Droge.

Buscetta wurde auch Boss der zwei Welten (Boss dei due mondi) genannt, Welten, zwischen denen sich auch Pasquino bewegte. Auch deswegen, aber nicht nur bezeichnete ihn die Tageszeitung "La Stampa" unlängst als den "neuen Buscetta". Der Palermitaner war aber, wenngleich nie zum Boss aufgestiegen (seine Leidenschaft für Frauen versperrte ihm die Laufbahn), weitaus mächtiger und einflussreicher.

Ein weiterer und wichtigerer Grund, der den Vergleich mit Buscetta nahe legt, ist, dass Pasquino beschlossen hat, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, und diese Aussagen, ähnlich denen von Buscetta, der 'Ndrangheta und ihren brasilianischen Partnern einen folgenschweren Schlag verpassen könnte. Sie könnten nämlich das Koksgeschäft ruinieren, das aber weiter eine vorrangige Einnahmequelle ist.

Die Mafia - eine journalistische Erfindung

Buscetta begann nach seiner Auslieferung nach Italien mit dem Richter Giovanni Falcone zu sprechen. In den über vier Monate andauernden Gesprächen nannte er die Namen der Bosse, aber vor allem erläuterte er die Struktur und die Organisation der Mafia, genauer gesagt der Cosa Nostra. Denn, wie er Falcone belehrte: "Die Mafia existiert nicht, die Mafia ist eine journalistische Erfindung. Es heißt Cosa Nostra. Wir Ehrenmänner nennen sie so."

Buscettas Aussagen führten zu Hunderten Festnahmen, insgesamt waren es 366, und zu den sogenannten Maxi-Prozessen Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in Palermo. Daraufhin verübte Cosa Nostra Rache, ermordete 1992 zuerst Falcone und ein paar Monate später seinen Kollegen und Freund Paolo Borsellino.

Buscetta war der erste Pentito, der die pyramidenartige Struktur von Cosa Nostra offenlegte. Die Bezeichnung Pentito hat er aber immer von sich gewiesen. Er war und bleibe ein Uomo d'onore, ein Ehrenmann, "und deshalb kein Pentito". Es sei auch nicht Reue (pentimento) gewesen, die ihn zum Kronzeugen gemacht habe, sondern Rache dem Clan der Corleonesi gegenüber, der zwei seiner Söhne, die nichts mit der Mafia zu tun hatten, erdrosselte.

Ladungen, Doleiro und Geldtransfer

Und jetzt zu Pasquino. Auch er könnte ein Erdbeben auslösen und ein sehr breitflächiges noch dazu, das in der kalabrischen Ortschaft San Luca, wo die 'Ndrangheta ihr Zuhause hat, beginnt und bis Brasilien reicht. Seit Anfang Mai sagt Pasquino, der im römischen Gefängnis von Rebibbia inhaftiert ist, vor den Staatsanwälten über seine Geschäfte mit Kokain aus.

Die Medien zitieren ihn aus den Protokollen: "Ich heiße Vincenzo Pasquino. Ich bin am 3. Oktober 1990 in Turin geboren, früher hatte ich ein Bauunternehmen. Laufende Gerichtsverfahren? Mehrere. Ich erkläre mich zur Zusammenarbeit bereit und möchte freiwillige Aussagen zur Anklage wegen Kokainhandels machen. Ich bekenne mich hierfür verantwortlich."

Die Tageszeitung "La Stampa" schreibt von Ladungen, einmal um die 75 Kilogramm, ein andermal um die 500 Kilogramm bis hin zu einer Tonne; Kokain, das aus Kolumbien und aus anderen Ländern kam - zwischen Pellets und Bananen Richtung Antwerpen oder dem kalabrischen Hafen Gioia Tauro verschifft. Wichtiger als die Mengen sind den Ermittlern aber die Zahlungsmechanismen. Immerhin weiß man, dass das Geld von chinesischen oder arabischen "Doleiro", Geldwäschern, nach Brasilien gebracht wurde, und von dort nach Kalabrien. Später soll es per Lkw nach Mailand und Turin gelangt sein.

Kronzeuge oder Verräter?

An Pasquinos Aussagen sind aber nicht nur die italienischen Ermittler interessiert, sondern auch die brasilianischen, und zwar sehr. Sie könnten helfen, die Mitglieder der kriminellen Organisation Primeiro Comando da Capital (PCC) mit Sitz in São Paulo zu stellen. Die Organisation PCC ist die mächtigste Mafia in Brasilien. Sie zählt an die 11.000 Mitglieder und ist hauptsächlich in São Paulo und in der Grenzregion Triple Frontera zwischen Brasilien, Paraguay, Argentinien tätig.

Zwar wussten italienische und brasilianische Ermittler von der Zusammenarbeit zwischen 'Ndrangheta und PCC. Pasquinos Aussagen könnten aber die Machtstruktur und die Machtaufteilung im PCC offenlegen, heißt es in der brasilianischen Tageszeitung "O Globo". Auch über die zweite brasilianische Mafia-Organisation Comando Vermelho (CV) soll der Kalabrese Wichtiges wissen.

Der preisgekrönte italienische Regisseur Marco Bellocchio drehte zum Fall Buscetta den sehenswerten Film "Il Traditore". Beim deutschen Titel wurde die Erklärung "Als Kronzeuge gegen die Mafia" (2019) hinzugefügt. Man hätte aber statt Traditore auch das deutsche Wort Verräter verwenden können, denn dieser Begriff gibt dem Titel erst die Brisanz. Ob Pasquinos Aussagen dieselbe Sprengkraft haben werden, um die 'Ndrangheta und ihre brasilianischen Partnerorganisationen in die Knie zu zwingen, wird man sehen.

Quelle: ntv.de

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