Panorama

Überlebende des 11. September Die Ungeheuerlichkeit, am Leben zu sein

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Bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA kamen fast 3000 Menschen ums Leben. Doch mindestens 33.000 Menschen konnten dem angegriffenen World Trade Center in New York und dem Pentagongebäude entkommen. Sie blieben zum Teil körperlich unversehrt, andere wurden verletzt, viele traumatisiert. Doch eines war ihnen allen gleich: Sie sind seitdem Überlebende. Und dieses Überleben ist für viele eine Herausforderung. Hier sind drei ihrer Geschichten.

Kathy Comerford ist an jenem Tag schon früh in ihrem Büro im 70. Stock des Südturms des World Trade Centers. Schon seit 1984 ist sie bei Morgan Stanley, hat unzählige Übungen mitgemacht, die der Sicherheitsbeauftragte der Firma nach dem ersten Anschlag auf das WTC 1993 immer wieder angesetzt hat. Nachdem das erste Flugzeug in den Nordturm geflogen ist, verlassen alle Mitarbeiter das Büro, auch wenn der Vorfall im Nachbarturm noch nach einem Unglücksfall aussieht. Die Geschäftsfrau ist verheiratet, hat drei Kinder und beschließt, dass sie an diesem Tag nicht sterben wird. Comerford hat den 44. Stock erreicht, als das zweite Flugzeug einschlägt.

Die Druckwelle reißt sie aus ihren Schuhen. "Ich habe mir die Schulter ausgekugelt und mir den Nacken verletzt, aber das spürt man in diesem Moment nicht", erzählt sie in der sechsteiligen Dokumentation "9/11: One Day in America", die zum 20. Jahrestag der Anschläge entstand. Sie habe an den Film "Stirb langsam" gedacht, in dem Bruce Willis barfuß über ein Meer aus Glasscherben laufen und mit aufgeschnittenen Füßen fliehen muss. "Ich dachte immer: 'Ich muss meine Schuhe finden, weil ich nicht all diese Treppen hinuntergehen kann, wenn meine Füße bluten.' Also bin ich aufgestanden und habe meine Schuhe gesucht."

Im 22. Stock sind die Treppenhäuser bereits massiv beschädigt, die Wände voller Risse. Comerford erreicht den Ausgang, acht Minuten später bricht der Südturm des World Trade Centers in einer gigantischen Wolke aus Asche, Staub und Schutt in sich zusammen. Hunderte Menschen werden von den Trümmern verschüttet. Unter den Toten ist auch der Sicherheitsbeauftragte von Morgan Stanley, der überzeugt war, dass es weitere Anschläge auf das WTC geben würde und dass diese vermutlich aus der Luft verübt werden. Die Firma verlor 13 Mitarbeiter, es hätten sehr viel mehr sein können.

Als sie abends an ihrem Haus aus dem Auto steigt, wird Comerford von ihrer Familie und der gesamten Nachbarschaft erwartet. "Ich brach praktisch zusammen. Ich hätte keinen Schritt mehr machen können, auch nicht, wenn Sie mir zehn Millionen Dollar bezahlt hätten. Ich saß einfach auf dem Boden und konnte nicht mehr." Ihr Mann bringt sie in die Notaufnahme. Comerfords Kopf, Nacken und Schultern sind mit Schnittwunden übersät, die sie nicht einmal bemerkt hatte. "Als wir im Krankenhaus ankamen, war es sehr surreal, denn als ich sagte, ich sei im World Trade Center gewesen, sagten sie: 'Oh mein Gott. Wir haben gewartet. Wir waren alle in Bereitschaft, um den Menschen zu helfen.'" Comerford war an diesem Tag die einzige Patientin, die kam.

Seitdem spricht sie immer wieder über ihre Erinnerungen. Sie erzählt sie ihren Kindern und jedem, der sie hören will. Sie fühle sich geradezu gezwungen, davon zu berichten, weil die Ereignisse drohten in Vergessenheit zu geraten. An jedem 11. September bekomme sie Nachrichten anderer Überlebender. "Wir sind alle miteinander verbunden." Manchmal richte man einander auf, wenn jemand niedergeschlagen ist. Manchmal werden Anlässe gefeiert, die man nur deshalb erleben könne, weil man überlebt habe. "Manchmal fühlt es sich an, als wäre es gestern gewesen, manchmal fühlt es sich an, als wäre es vor 50 Jahren gewesen. Aber es ist jeden Tag da."

Armband mit 14 Namen

Mark DeMarco ist am 11. September in New York als Polizist im Einsatz. Zunächst hilft er als Offizier der Emergency Service Unit (ESU), den Nordturm des WTC zu evakuieren. Er wartet auf weitere Anweisungen, als Teile der Türme auf ein kleineres Gebäude stürzen, in dem er sich gerade aufhält. Er verliert dadurch seine Kollegen, einige für immer.

Mark DeMarco verlor 14 Kollegen.

Mark DeMarco verlor 14 Kollegen.

(Foto: AP)

Weil er vor lauter Staub kaum etwas sehen kann, leuchtet er mit seiner Taschenlampe dorthin, wohin er den nächsten Schritt setzen will. Er kann fast seine Füße nicht erkennen. Beinahe tritt er ins Leere, erst dann versteht er, dass unmittelbar vor ihm einer jener Krater klafft, die später für Ground Zero so charakteristisch sind - Gräben oder Löcher, wo sich fallende Steine oder Metallteile metertief in den Untergrund gebohrt haben.

Seitdem hat er immer wieder diese Was-wäre-wenn-Gedanken. Mit solchen Schuldgefühlen kämpfen viele Überlebende. Gedankenschleifen aus: Wenn ich etwas mehr links gestanden hätte, wenn ich eher oder später an diesem Ort gewesen wäre. "Ich konnte nicht herausfinden, wie ich da lebend herausgekommen bin", erzählt der inzwischen pensionierte Polizist der Nachrichtenagentur AP. DeMarco trägt seit Jahren ein Armband. Darauf sind die Namen der 14 ESU-Mitglieder eingraviert, die am 11. September ums Leben kamen.

20 Jahre nach diesem Tag fürchtet er, dass die Erinnerung an die Anschläge in der Öffentlichkeit verblasst, dass im Lauf der Zeit ein falsches Gefühl der Sicherheit entstanden ist. Er selbst hat immer zwei Seelen in seiner Brust. "Viel Spaß mit dem Leben. Habt keine Angst", sagt er. "Aber sei achtsam."

Unlösbare Verbindung

Als das zweite Flugzeug ins WTC einschlägt, erinnert sich Karen Baker daran, was ein Kollege immer sagte: "Dies ist derzeit der sicherste Ort auf der Welt." Er meint das Pentagon, das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten. Kaum eine Stunde später stürzt eine Boeing 757 von American Airlines, unterwegs von Washington nach Los Angeles, in das Pentagon und bringt einen Teil des Westflügels zum Einsturz. Die Sicherheit erweist sich als Illusion. 53 Passagiere, sechs Besatzungsmitglieder und 125 Menschen im Gebäude sterben.

Baker erinnert sich an ein lautes Knallen und ein Zittern, bevor sie sich mit ihrer Freundin Elaine Kanellis auf den Weg hinaus macht. Tausende von Mitarbeitern suchen durch Dunkelheit und Hitze einen Weg ins Freie. Kanellis ist im neunten Monat schwanger, ihr Sohn wird am 21. September 2001 zur Welt kommen. "Die Leute waren sehr ängstlich und versuchten herauszufinden, was los war. Aber wir waren mit Militärs zusammen. Sie waren schon früher unter Beschuss, also gab es ein Gefühl von Ruhe und Ordnung in der Verwirrung", erinnert sich Baker. Erst nachts schafft sie es durch die weitgehend gesperrte US-Hauptstadt bis nach Hause. Als sie ihren Mann und die beiden Söhne in die Arme schließen kann, wird ihr die Ungeheuerlichkeit des eigenen Überlebens klar.

Die damals 33-Jährige ist Krisenkommunikationsexpertin im Pentagon und geübt darin, Todesnachrichten zu überbringen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dies für Zivilisten tun zu müssen. Unter den Opfern sind auch zwei gute Freunde, ein weiterer hat schwerste Verbrennungen erlitten. "Du siehst das alles sehr professionell. Und dann siehst du plötzlich die Namen von Freunden auf der Liste, von denen du nicht wusstest, dass sie verletzt sind, und jetzt geben wir ihren Tod bekannt. Das war das Schlimmste", erzählt Baker der Nachrichtenagentur AFP.

"Meine Aufgabe war es, als Verbindungsperson für die Familienangehörigen zu fungieren, und wenn nötig, auch als ihr Schutzschild. Wenn sie mit der Presse sprechen wollten, arrangierten wir das. Wenn nicht, waren wir ihr Schutzschild." Monatelang macht dies einen Großteil ihrer Arbeit aus. "Die Menschen, die ich aus dieser Zeit kenne, sind wahrscheinlich meine engsten Freunde", sagt sie zehn Jahre nach den Anschlägen. "Wir sind miteinander verbunden, und an jedem 11. September melden wir uns gegenseitig." Daran hat sich auch weitere zehn Jahre später nichts geändert. "Es hat wirklich den Weg geprägt, den viele von uns danach eingeschlagen haben", so Baker.

Quelle: ntv.de

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