Panorama

Femizid an Giulia Cecchettin Ein Frauenmord, der Italien aufgewühlt und verändert hat

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Die Schwestern Giulia und Elena Cecchettin auf Bildern im Haus ihres Vaters Gino.

Die Schwestern Giulia und Elena Cecchettin auf Bildern im Haus ihres Vaters Gino.

(Foto: Udo Gümpel)

Im November 2023 wird die 22-jährige Biomedizin-Studentin Giulia Cecchettin in Italien von ihrem Ex-Freund brutal ermordet. Ihr Vater Gino kämpft seitdem unermüdlich für Frauenrechte. Er will, dass seine Tochter nicht umsonst gestorben ist.

Der Mord an der 22-jährigen Studentin der Biomedizin Giulia Cecchettin am 11. November 2023 hat Italien tief aufgewühlt. Giulias Name steht nun für "Femizid", Frauenmord schlechthin - Mordtaten, begangen von männlichen Partnern, Angehörigen, Freunden.

Wobei die Anzahl der Femizide in Italien deutlich geringer ist als in Deutschland. Während in Deutschland im Durchschnitt jeden Tag eine Frau, ein Mädchen, Opfer eines männlichen Täters aus ihrem Umfeld wird, zählte man in Italien im Jahr 2024 bis zum 18. Dezember "nur" 110 Femizide. Die Zahl der Morde an Frauen ist dabei in Italien in den vergangenen 20 Jahren um rund ein Drittel zurückgegangen. Im Jahr 2002 zählte man noch 187 ermordete Frauen, 2021 waren es 119.

Zur deutschen Lage schreibt das BKA im November: "Der Anteil an weiblichen Opfern, die im Zusammenhang mit partnerschaftlichen Beziehungen Opfer von Tötungsdelikten wurden, liegt bei 80,6 Prozent. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen Opfer vollendeter Taten. Demnach gab es 2023 beinahe jeden Tag einen Femizid in Deutschland."

Auch in Italien sind die Frauenmörder meist männliche Partner, Ex-Partner, Ehemänner. Der Zufallsmörder, dem die Frau auf der Straße begegnet, ist statistisch die große Ausnahme, nach italienischen Daten seltener als jeder zehnte Mörder. Das italienische Justizministerium stellt 2024 in einer Analyse der Feminizide fest, dass die Morde kriminaltechnisch ein "primitives" Täterprofil zeigen. "Sehr oft sind es Fälle, in denen wir regelrechte Abschlachtungen feststellen müssen, Männer, die eine entfesselte Wut entladen, ein Handgemenge, ein dichter Kampf, stattfindet: Die typische Tatwaffe ist dabei das Messer."

Hilferufe in der Nacht

Für den Vater von Giulia Cecchettin ist es kein Trost, dass Frauen in Italien deutlich sicherer leben als etwa in Deutschland. Nie hätte er geglaubt, dass so eine Katastrophe über ihn hereinbrechen würde. "Der Tod meiner Tochter hat mein ganzes Leben umgewälzt", erzählte Gino Cecchettin ntv.de am Küchentisch der Familie in Vigonovo.

Gino Cecchettin erzählt, dass Giulia am letzten Tag ihres Lebens noch mit ihrem Ex-Freund Filippo Turetta im Einkaufszentrum von Marghera bei Venedig essen war. Sie ahnte nicht, dass Filippo da schon alles genau geplant hatte: Er wollte sie, wenn sie keinen Widerstand leistete, noch am selben Abend entführen. So sagte er es vor Gericht aus. Als Giulia aber kurz vor Mitternacht vor dem väterlichen Haus aus seinem Auto ausstieg, wo ihr Vater und ihr Bruder Davide auf sie warteten, schlug er sie auf dem Parkplatz nieder und stach dann auf sie ein. So schlimm, dass ein Messer abbrach.

Am nächsten Morgen fand man die abgebrochene Klinge. Ein Nachbar hörte Giulia noch kurz vor Mitternacht um Hilfe rufen. Er rief den Notruf, die Carabinieri aber kamen nicht, "es gab zu viele Anrufe", rechtfertigten sie sich danach. Gino hörte Giulias Hilferufe nicht, weil er schon schlief.

"Da, wo du jetzt sitzt, saß auch Filippo, in dem Jahr, in dem er mit Giulia ein Paar war", sagt Gino Cecchettin. "Ein schüchterner Junge, der Giulia bewunderte." Den Mörder seiner Tochter beschreibt er als zurückhaltend, bei den Cecchettins zu Hause sagte er fast nie ein Wort. Nachdem sich seine Tochter im August 2023 von Filippo getrennt hatte, riet Vater Gino ihr, "eine klare Trennung zu vollziehen, ihn nicht mehr privat zu treffen". Für einen klaren Schnitt sprach sich auch die Schwester Elena aus, aber Giulia meinte, die Beziehung zu Filippo, der auch ihr Studienkollege und in einer Arbeitsgruppe mit ihr war, in eine Freundschaft umwandeln zu können.

Trennung einfach ignoriert

Filippo war auf die Musterstudentin Giulia eifersüchtig. Sie hatte noch am Nachmittag der Tat ihre Bachelor-Arbeit eingereicht, hätte in der Woche darauf den ersten italienischen akademischen Grad "Dottore" des Baccalaureates erhalten - Filippo aber war noch längst nicht fertig. Er verlangte von ihr, ihre Arbeit erst dann einzureichen, wenn auch er fertig werden würde. Filippo schrieb ihr Tausende Botschaften, bedrängte sie. "Es war ein echtes Stalking", meinte Giulias Schwester Elena. Filippo nahm die Trennung einfach nicht wahr. Für ihn war sie immer noch "seine" Verlobte.

Vor Gericht erzählt Filippo seine Version, wobei seine Aussage aus minutenlangem Schweigen, unterbrochen von einzelnen, hingestammelten Wortfetzen, bestand: "Ich habe so viel gelitten, weil sie mich nicht mehr wollte, da wollte ich nur, dass Giulia auch leidet wie ich. Ich wollte sie entführen", versuchte er sich zu rechtfertigen. In Wirklichkeit hatte er bereits einen Ort ausgesucht, wo er ihren Leichnam ablegen konnte, am Rand einer Bergstraße von Piancavallo zum Lago di Bercis.

Das Mordmotiv ist typisch für Frauenmörder im Beziehungsumfeld: "Ich habe sie getötet, weil sie mich verlassen hat, nicht mehr mit mir wieder zusammen kommen wollte", so Filippo. Die Zurückweisung durch eine Frau passte nicht in sein Beziehungsschema, das von männlicher Dominanz geprägt ist. Besonders gefährlich werden diese Männer, das ist die kriminologische Erfahrung, wenn sie nach der Trennung das "Versöhnungsgespräch" suchen, einen "Neuanfang" versprechen.

Filippo Turetta wurde am 3. Dezember 2024 vom Schwurgericht von Venedig für den Mord an Giulia zu lebenslanger Haft verurteilt. Einsicht zeigte er nur in wenigen Momenten, wenn er davon sprach, "verschwinden" zu wollen, die "Haft zu verdienen". Das aber macht Giulia nicht wieder lebendig.

Im Kofferraum verblutet

Vater Ginos anderes Leben begann am Morgen des Verschwindens, als er und seine Kinder Davide und Elena noch die Hoffnung hatten, die beiden lebendig zu finden. Sie bitten an diesem Morgen in allen Medien um Hilfe bei der Suche nach Giulia. Das ganze Land sucht die junge Frau und ihren Ex-Freund. Schnell wird klar, dass Giulia von Filippo in dessen Auto gezwungen worden ist.

Eine Videokamera im Industriegebiet Fossò von Vigonovo, dem Wohnort der Familie, nimmt die letzten, furchtbaren Bilder der noch lebenden Giulia auf. Es ist gegen 23:45 Uhr, als Giulia es geschafft hat, aus Filippos Auto zu entkommen. Und das, obwohl er sie mit Klebeband gefesselt und auf der 15-minütigen Fahrt bereits mit zahlreichen Messerstichen verletzt hat. Filippo läuft ihr hinterher, reißt sie zu Boden, sticht weiter wie irre auf sie ein.

Die Gerichtsmedizin zählt insgesamt 75 Messerstiche, wovon 25 Abwehrverletzungen sind. Bis zum letzten Augenblick kämpft Giulia um ihr Leben. Filippo wirft die tödlich verletzte Giulia in den Kofferraum, sie stirbt wenige Minuten später, so ergibt es später die Autopsie. Sie verblutet im Kofferraum. Filippo Turetta fährt in den frühen Stunden des 12. November Richtung Berge, wo er den Leichnam von Giulia in einem umwegsamen Gebiet zwischen dem Bergdorf Piancavallo und dem Lago di Barcis, in einer Art Grotte unter Steinen, ablegt. Giulias Leichnam wird dort am 18. November entdeckt, Filippo wird am 19. November in der Nähe von Leipzig festgenommen, er ist auf seiner Flucht ohne Benzin und Geld auf der deutschen Autobahn stehen geblieben.

"Nie Rachegedanken"

Gino Cecchettin hat keinen Prozesstag in Venedig verpasst. In dem kleinen Gerichtssaal saßen Vater und Tochtermörder nur wenige Stühle voneinander entfernt. Gino schaute Filippo an, Filippo schaute niemals zurück. Bei seiner achtstündigen Vernehmung am 27. Oktober 2024 vermied Filippo es, dem Vater, dem Onkel, der Oma seiner Ex-Verlobten auch nur einmal ins Gesicht zu schauen. Stattdessen stammelte er seine Aussagen mit starrem Blick ins Mikrofon, war auch akustisch kaum zu verstehen.

"Ich habe nie Rachegedanken gehegt", sagt Gino Cecchettin. "Wahr ist, dass ich nach dem Tod meiner Tochter Giulia von meiner ersten Tochter Elena gelernt habe. Sie hat mir das Konzept des Patriarchats erklärt, hat mich auf die richtige Bahn geführt." Elena Cecchettin macht die Gesellschaft mitverantwortlich für den Tod der Schwester. Sie bezeichnet die Frauenmörder als "Produkte des Patriarchats und der Kultur der Vergewaltigung", eine Kultur der besitzergreifenden Kontrolle.

Gino Cecchettin am Tag der Urteilsverkündigung im Gericht.

Gino Cecchettin am Tag der Urteilsverkündigung im Gericht.

(Foto: Udo Gümpel)

Seitdem ist Gino ein unermüdlicher Aktivist für Frauenrechte, gegen den Femizid geworden. "Um unsere Töchter zu beschützen, müssen wir unsere Söhne erziehen", sagt er überzeugt. Dem pflichtet der Onkel von Giulia, Andrea Camarotto, nach dem Gerichtsurteil bei: "Die lebenslange Haft für den Mörder meine Nichte bringt sie uns nicht zurück. Wir haben kein Triumphgefühl, wir wollen nur alles tun, dass andere Töchter heil davonkommen."

Gino Cecchettin steht nach dem Urteil einen Moment schweigend im Gerichtssaal, der Mörder ist schon abgeführt worden, der Saal leert sich. "Wir, als Gesellschaft, haben hier alle verloren", sagt er dann. "Niemand bringt mir Giulia zurück. Es ist ein seltsames Gefühl. Ich dachte zuerst, dass mich das alles nicht mehr berühren würde." Es sei zwar Gerechtigkeit hergestellt worden, "aber ich glaube, dass wir als Menschen mehr tun müssen. Ich bin davon überzeugt, dass die Gewalt gegen Frauen nicht mit Strafandrohungen bekämpft werden kann, sondern nur mit Vorbeugung, damit, dass wir ein anderes Verhalten lehren und lernen. Als Mensch empfinde ich das alles hier als eine Niederlage. Als Vater hat sich für mich nichts geändert, im Vergleich zu gestern, zu vor einem Jahr."

Turetta wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Turetta wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

(Foto: Udo Gümpel)

Er hat die Stiftung "Giulia Cecchettin" gegründet, geht in Schulen, spricht mit jungen Männern und Frauen. Giulias Leben, ihre Ideale, leiten ihn an, sagt er: "Giulia war ein unglaublich altruistisches Mädchen. Ich selbst hatte nie soziale Aktivitäten unternommen, außer gelegentlichen Spenden. Giulia hingegen hat sich sehr engagiert, um ihren Klassenkameraden in schwierigen Situationen zu helfen. Inspiriert von ihr haben wir eine Stiftung gegründet, die Opfern von Gewalt, insbesondere Frauen, helfen wird."

"Liebe Giulia, ..."

Und Gino Cecchettin hat ein Buch geschrieben, eine Liebeserklärung an seine Tochter.

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"Liebe Giulia,

ich habe nie viel geschrieben, aber nach allem, was passiert ist, verspürte ich das starke Bedürfnis, diesen langen Brief zu verfassen, um zu versuchen, zu verstehen und die Erinnerungen an dich für immer festzuhalten. Ich mag den Gedanken, dass du ihn dort oben, vielleicht an der Seite deiner Mutter, lesen wirst. Oder vielleicht wirst du mir die Hand beim Schreiben führen.

In den letzten Monaten habe ich viel gelesen, und die nun folgenden Worte kommen direkt aus meinem Herzen, werden mir auf meinem Weg und im ganzen Leben helfen. Ich hoffe, dass sie auch Davide und Elena helfen werden. Ich habe sie in einem der Dutzenden Bücher gefunden, die mir jemand, ein unbekannter Mensch, der dich liebte, für dich geschickt hat.

Hier sind sie:

Wahre Liebe ist weder körperlich noch romantisch. Wahre Liebe ist die Akzeptanz von allem, was ist, war, sein wird und nicht sein wird. Die glücklichsten Menschen sind nicht unbedingt diejenigen, die das Beste von allem haben, sondern diejenigen, die das Beste aus dem machen, was sie haben. Das Leben ist keine Frage, wie man den Sturm übersteht, sondern wie man im Regen tanzt.

Diese Worte hättest du schreiben können."

Quelle: ntv.de

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