Panorama

Montgomery über Lockerungen"Es gibt keine goldene Formel"

25.05.2021, 15:34 Uhr
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Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz nähert sich der Obergrenze von 50. (Foto: imago images/Rüdiger Wölk)

Die Infektionszahlen sind nach dem langen Pfingstwochenende niedrig. Die Rufe nach einer Lockerung der Corona-Maßnahmen werden lauter. Frank Ulrich Montgomery wiegelt ab. Noch sei das Niveau zu hoch. Auf internationaler Ebene geht der Weltärzte-Vorstandschef mit der WHO hart ins Gericht.

Die Infektionszahlen sind nach dem langen Pfingstwochenende niedrig. Die Rufe nach einer Lockerung der Corona-Maßnahmen werden lauter. Frank Ulrich Montgomery wiegelt ab. Noch sei das Niveau zu hoch. Auf internationaler Ebene geht der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes mit der WHO hart ins Gericht.

ntv: Die Sieben-Tage-Inzidenz ist einer der wichtigsten Indikatoren für Lockerungen. Dieser Wert geht immer weiter runter. Trotzdem sind die Fitnessstudios in vielen Bundesländern noch geschlossen. Die Innengastronomie ist immer noch zu. Könnten wir da nicht ein kleines bisschen lockerer werden jetzt, wo wir sehen, dass die Zahlen so schnell runtergehen?

Montgomery
Die Corona-Pandemie wird laut Montgomery nie wirklich beendet sein. (Foto: ntv)

Frank Ulrich Montgomery: Aus medizinischer Sicht reicht das natürlich noch nicht. Wir haben immer noch ein zu hohes Niveau der Inzidenzen. Deswegen sollte man Kontaktsportarten oder eigentlich relativ überflüssige Kontakte wie zum Beispiel in Fitnessstudios noch weiter einschränken. Man kann sich ja auch durch Joggen draußen sportlich betätigen. Auf der anderen Seite gibt es aber die Überlegung mit den wirtschaftlichen Folgen und natürlich auch, Grundrechtseinschränkungen aufzuheben. Hier muss Politik entscheiden. Aus medizinischer Sicht reicht mir der niedrige Inzidenzwert noch nicht. Ich erinnere daran: Wir hatten ursprünglich mal die 35 vorgesehen. Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, wurde die 100 die neue 35. Das war schon ein politischer Kraftakt, aber keine wissenschaftlich begründete Tat.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat jetzt die Inzidenz von 20 ins Spiel gebracht. Er sagte, so war es auch im vergangenen Sommer, als wir relativ frei leben konnten. Das waren aber die Verhältnisse von letztem Sommer. Deswegen nochmal die Frage: Wir impfen jetzt und haben überall die Schnelltests. Ist denn eine Inzidenz von 20 nicht doch etwas zu weit unten angelegt?

Nein, das glaube ich nicht, denn die Inzidenz ist unabhängig von der Frage, in welchem Reservoir von Menschen sich das Virus seine Opfer sucht. Eine Inzidenz von 20 in einer mehr oder weniger durchgeimpften Bevölkerung ist eigentlich eher ein hohes Warnsignal. Denn noch immer findet das Virus Opfer, obwohl viele Leute geimpft sind. Deswegen würde ich ein bisschen wegkommen wollen von dieser einen Zahl. Sie ist ohne Frage wichtig, aber wir müssen auch andere Dinge mitberücksichtigen. Sie selber beziehen sich auf die Anzahl der Geimpften, das ist richtig. Die Kapazität des Gesundheitssystems ist immer wieder ein Wert, der sogenannte R-Wert ein anderer. Die Inzidenz sagt uns: Wo stehen wir heute mit der Infektion? Der R-Wert sagt uns: Wohin geht diese Infektion gerade im Moment, nach oben oder nach unten? Das muss man alles zusammen sehen. Es gibt keine goldene Zahl und keine goldene Formel, sondern das ist eine politische Betrachtung. Ich verstehe, dass die Menschen ungeduldig werden und mehr wollen, das ist auch völlig normal. Das ist auch völlig in Ordnung. Aber dann müssen Politik und Wissenschaft auch sagen, der Preis des Rückfalls wäre wirklich sehr, sehr hoch und deswegen lassen Sie uns lieber noch ein bisschen vorsichtig sein.

Wann können wir denn aufhören, vorsichtig zu sein? Oder anders formuliert: Wann ist die Pandemie beendet?

Das Typische einer Pandemie, also dieser Pandemie zumindest, ist: Sie wird in meinen Augen nie beendet sein. Denn wir kriegen das Virus nicht weg. Dieses Virus wird uns ähnlich wie das Grippevirus noch lange, lange über Generationen begleiten. Deswegen ist Prävention so wichtig und die erste Prävention ist natürlich Impfen. Die zweite Prävention aber, da wo die Leute nicht durchgeimpft sind, sind Beschränkungen und Abstandsmaßnahmen, um dem Virus den Boden zu entziehen, auf dem es sich ausbreiten kann.

Aber denken Sie denn, dass wir wirklich jahrelang, wenn uns dieses Virus nicht mehr verlässt, nach diesen Abstandsregeln leben müssen?

Ich glaube, dass wir eine ganze Reihe von Abstandsregeln weiter leben müssen, zum Beispiel die Hygieneregeln. Aber auch das Maskentragen ist nicht gerade ein so dramatischer Grundrechtseingriff, dass er die Leute komplett schädigt. Das kann man wirklich weitermachen. Und das hat übrigens ganz tolle Nebeneffekte. In diesem Winter ist die Grippewelle ausgefallen. Wir sehen viel, viel weniger Magen-Darm-Infektionen. Einfache Erkältungen haben abgenommen, und ich habe, seit ich Maske trage, keinen einzigen viralen Infekt mehr gehabt. Ansonsten hat jeder einmal im Winter noch eine dicke Nase oder Ähnliches. Also, von daher haben das Maskentragen und die Einschränkungen noch eine ganze Reihe anderer positiver Effekte gehabt, und die beeinträchtigen die Wirtschaft nun wirklich nicht.

Also, wie lange müssen wir noch Maske tragen, auch wenn wir alle geimpft sind? Wie viele Jahre?

Das kann ich Ihnen nicht in Jahren sagen. Ich persönlich werde die Maske weiter in meiner Tasche haben und werde sie bei bestimmten Situationen, wo viele Menschen zusammenkommen, tragen. Denn da haben wir einfach auch von den Asiaten gelernt. In China und Japan war das schon seit Jahrzehnten Usus. Ich habe mich inzwischen sehr daran gewöhnt, und ich betrachte das nicht als einen Grundrechtseingriff.

Zum Auftakt der Jahrestagung der Weltgesundheitsorganisation WHO hat Angela Merkel einen internationalen Pandemievertrag gefordert, damit wir in Zukunft für künftige Pandemien besser gewappnet sind. Was sollte Ihrer Meinung nach in so einem internationalen Pandemievertrag drinstehen?

Ich halte die Idee für gut, denn ein Vertrag ist auch eine Verpflichtung beider Seiten, die das unterschreiben. In dem Vertrag sollte auf jeden Fall eine verstärkte Zusammenarbeit drinstehen - und zwar nicht nur in der Quarantäne, in der Bekämpfung, in der Information, sondern auch zum Beispiel bei der Entwicklung und bei der Verteilung von Impfstoffen. Um die momentane Debatte um die Gerechtigkeit der Verteilung der Impfstoffe vorwegzunehmen: Das kann man alles in einem Pandemievertrag regeln. Ob allerdings die WHO der richtige Träger dieses Vertrages ist, da habe ich meine Zweifel. Nur ein Beispiel: Aus rein politischen Gründen ist Taiwan von der diesjährigen Weltgesundheitsversammlung ausgeschlossen, weil China das so will. Die WHO ist momentan ein Spielball chinesischer Machtinteressen und muss deswegen auch ganz klar reformiert werden. Taiwan ist bisher das erfolgreichste Land in der Bekämpfung dieser Pandemie gewesen und wird, weil man wahrscheinlich in China den Erfolg der anderen nicht ertragen kann, von der Weltgesundheitsorganisation ausgeschlossen. Das ist ein politischer Skandal, der auch öfter mal erwähnt gehört.

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus hat appelliert, dass die ganze Welt dafür sorgen müsse, dass bis Ende des Jahres 30 Prozent der Weltbevölkerung geimpft sind. Halten Sie das für realistisch?

Nein, das halte ich nicht für realistisch. In sehr armen Staaten haben wir gar nicht die Gesundheitsinfrastruktur, um diese Impfstoffe zu verimpfen. Denken Sie mal daran: Bis vor Kurzem galt für einige Impfstoffe noch eine Lagerung, bei dem einen von minus 70 Grad Celsius, bei dem anderen von minus 20 Grad. Wie wollen Sie das in Gegenden in der Sahelzone, ohne Infrastruktur, gewährleisten? Nein, ich halte das Ziel für zu hochgesteckt, aber das ist das Typische an Zielen. Wenn man die nicht hoch genug steckt, kommt man auch nicht weit. Deswegen halte ich das für eine politische Aussage von Tedros. Eigentlich wird er selber daran gemessen werden, und man wird wieder einmal die administrative Inkompetenz der WHO sehen, wenn es am Ende nicht geklappt hat.

Mit Frank Ulrich Montgomery sprach Nina Lammers

Quelle: ntv.de

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