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Nach Tat von Aschaffenburg Experte zu Geflüchteten: "Psychische Erkrankungen verschärfen sich hier"

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"Eine psychosoziale Beratung, die stabilisierend oder auffangend wirken könnte, fehlt in vielen Unterkünften", sagt Welz.

"Eine psychosoziale Beratung, die stabilisierend oder auffangend wirken könnte, fehlt in vielen Unterkünften", sagt Welz.

(Foto: picture alliance / Winfried Rothermel)

Die Bluttat von Aschaffenburg heizt die Debatte um Geflüchtete und psychische Erkrankungen an. Viele von ihnen erreichen Deutschland bereits traumatisiert. Vor Ort sind sie mit Massenunterkünften und einer fehlenden Perspektive konfrontiert. Umstände, die laut Lukas Welz zu psychischen Erkrankungen führen oder sie verstärken können. Der Geschäftsleiter des Dachverbands Psychosozialer Zentren kritisiert, dass flächendeckende Hilfsangebote fehlen. Dies habe auch politische Gründe.

ntv.de: In Aschaffenburg hat ein 28-Jähriger zwei Menschen getötet, darunter ein Kind. Der Mann war aus Afghanistan geflohen und ist offenbar psychisch krank. Wie verbreitet sind psychische Erkrankungen generell bei Geflüchteten?

Lukas Welz: Studien zeigen, dass rund 30 Prozent der geflüchteten Menschen in Deutschland an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. So gut wie jeder hat traumatisierende Erfahrungen gemacht, die sich aber nicht immer in psychischen Erkrankungen niederschlagen. Dazu gehören die Fluchtgründe, also etwa politische Verfolgung, Folter und Krieg sowie die Flucht selbst. Aber auch die Situation im Ankunftsland kann diese Belastungen verstärken.

Inwiefern?

Die Unterkünfte sind in der Regel Massenunterkünfte. Da gibt es keinen Raum für Privatsphäre. Schwer traumatisierte Menschen werden in Gemeinschaftszimmern untergebracht, darunter auch Kinder. Für besonders vulnerable Gruppen existieren zum Teil keine speziellen Schutzkonzepte. Dazu kommt der unsichere Rechtsstatus, der oftmals lange Jahre ungeklärt ist und begleitet wird von Debatten über Abschiebungen in die Heimatländer. Das ist ein hoher Unsicherheitsfaktor. Viele sind zur Passivität verdammt, dürfen nicht arbeiten gehen und haben keine sozialen Möglichkeiten, den Tag zu gestalten oder sich selbst zu ermächtigen. Auch rassistische Ausgrenzung oder Gewalt kann zu einer starken Belastung führen. Psychische Erkrankungen werden hier mitunter verschärft oder sogar mit ausgelöst.

Gibt es denn ausreichend Hilfsangebote?

Eine psychosoziale Beratung, die stabilisierend oder auffangend wirken könnte, fehlt in vielen Unterkünften. Häufig kommt es sogar gar nicht erst zu einer Identifizierung der psychischen Erkrankung. Wir vertreten als Bundesverband derzeit 51 psychosoziale Zentren in Deutschland und versorgen rund 25.000 Menschen, das sind ungefähr drei Prozent der Geflüchteten, die psychosozialen Bedarf haben. Die Behandlung findet also nur vereinzelt statt, nicht systematisch. Der Täter von Aschaffenburg etwa wurde offenbar in eine Umgebung verlegt, in der die psychosoziale Anbindung nicht ausreichend war, obwohl er davor in psychiatrischer Behandlung war. Deutschland hat in dieser Hinsicht ein strukturelles Problem.

Woran liegt das?

Der Grundkonflikt liegt im Asylbewerberleistungsgesetz. Die Vereinten Nationen kritisieren Deutschland immer wieder für dieses diskriminierende Gesetz, weil es Menschen, die hier leben, aus Sozial- und Gesundheitsleistungen ausschließt. Das führt dazu, dass nur ein Bruchteil jener, die psychotherapeutischen Behandlungsbedarf haben, diesen auch finanziert bekommen. Nicht nur der bürokratische Aufwand ist sehr hoch, die Finanzierung therapeutischer Unterstützung wird am Ende oft abgelehnt. Die Entscheidung, ob beispielsweise jemand mit einer diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung eine Therapie bekommt, wird in den Sozialbehörden - anders als bei den Krankenkassen - von fachfremden Personen entschieden. Die psychosozialen Zentren sollen in dieser Lücke ein Stück weit ein Angebot schaffen, sind aber immer wieder von Kürzungen getroffen.

Wie sehen diese Kürzungen aus?

Das Bundesförderprogramm wurde für den laufenden Haushalt um die Hälfte gekürzt. Das führt zu der absurden Situation, dass die Psychosozialen Zentren zu einem wesentlichen Teil aus privaten Spenden und Stiftungsgeldern finanziert werden müssen. Dabei ist eine angemessene psychische Stabilisierung Gelingensbedingung für Integration und Teilhabe und sollte entsprechend staatlich, nachhaltig und flächendeckend gefördert werden.

Wenn diese Integrationsvoraussetzung nicht gegeben ist, wie sollen sich die Betroffenen dann integrieren?

Man kann davon ausgehen, dass das eine gewollte Situation ist. Die Politik lässt sich treiben von rechtspopulistischen Forderungen. Das Argument ist ja, Deutschland für geflüchtete Menschen möglichst unattraktiv zu machen. Dabei sind die Sozial- und Gesundheitsleistungen keine Faktoren, die von Menschen in der Entscheidung für oder gegen die Flucht in ein Land herangezogen werden.

Was müsste sich in Deutschland ändern, um die Situation zu verbessern?

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Wir würden uns wünschen, dass die Politik endlich erkennt, dass es eine nachhaltige finanzielle Grundlage braucht, um wenigstens die Strukturen, die es schon gibt, abzusichern und die Versorgung möglichst breit aufzustellen. Die Bundesmittel für die psychosozialen Zentren liegen aktuell bei sieben Millionen. Das waren mal 14 Millionen im vergangenen Jahr, und auch schon mal 21 Millionen, als im Zuge des Ukraine-Kriegs aufgestockt wurde. Wir reden hier also nicht über Milliardenbeträge, sondern über Summen, die sich aus meiner Sicht im Bundeshaushalt gut argumentieren lassen. Insbesondere, wenn man die Folgekosten in den Blick nimmt. Die Menschen im Rahmen einer flächendeckenden psychosozialen Stabilisierung früh aufzufangen, kann einer psychiatrischen Behandlung vorbeugen, die viel teurer ist. Dazu kommen die gesellschaftlichen Folgekosten in Phasen, in denen die Menschen so schwer belastet sind, dass Integration und Teilhabe nicht möglich sind. Und wir fordern eine Abschaffung der Ungleichbehandlung durch das Asylbewerberleistungsgesetz, sodass Menschen von Tag eins an in Deutschland die Unterstützung erhalten, die sie brauchen.

Der Täter von Aschaffenburg wurde mehrfach in psychiatrische Kliniken eingewiesen und jeweils wieder entlassen. Wurde die Gefahr nicht erkannt?

In diesem konkreten Fall kann ich das nicht genau sagen. Grundsätzlich sind psychiatrische Kliniken dazu verpflichtet, auch geflüchtete Menschen in akuten Fällen, also insbesondere bei Selbst- oder Fremdgefährdung, unabhängig von ihrem Aufenthalts- oder Versicherungsstatus aufzunehmen und zu versorgen. Aus der Praxis wissen wir aber, dass das Gesundheitssystem überlastet ist und Patienten mit einer Selbst- oder Fremdgefährdung zum Teil nach 24 Stunden wieder entlassen werden. Es wäre notwendig, eine Anschlussversorgung bereitzustellen, aber die fehlt oft, sodass Menschen nach einer Entlassung wieder sich selbst überlassen sind.

Mit Lukas Welz sprach Marc Dimpfel

Quelle: ntv.de

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