Treffen Strafbefehle Schwächste? Hunderttausende werden verurteilt, ohne einen Richter zu sehen


Wer keinen Einspruch gegen den Strafbefehl einlegt und seine Geldstrafe nicht zahlen kann, landet in Ersatzhaft.
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Kein Prozess, keine Anhörung und die Verurteilung kommt per Post: Ohne den Strafbefehl hätte die Justiz kaum eine Chance, den zahlreichen Fällen an Kleinkriminalität Herr zu werden. Allerdings kratzt das Instrument an rechtsstaatlichen Säulen - womöglich zulasten der Ärmsten und Schwächsten.
Etliche Menschen, die in Deutschland strafrechtlich verurteilt werden, haben zuvor weder einen Richter noch ein Gericht von innen gesehen. Gerichtet wird in diesen Fällen vom Schreibtisch aus - das Ergebnis überbringt anschließend der Postbote. Vorwurf, Beweismittel, Richterspruch und Strafmaß passen inklusive des Kleingedruckten mühelos auf eineinhalb DIN-A4-Seiten und landen nebst Tageszeitung und Nebenkostenabrechnung im Briefkasten. Der Empfänger ist nun schuldig, so hat es die Justiz entschieden. Dabei saß der Schuldige zuvor weder auf einer Anklagebank noch hat ihn ein Anwalt beraten, gar verteidigt. Das beschriebene Prozedere ist die wohl gängigste Praxis an deutschen Amtsgerichten. Die Rede ist vom Strafbefehlsverfahren.
Mit diesem Instrument der Strafprozessordnung soll die Justiz den zahlreichen Fällen von Kleinkriminalität Herr werden. Ladendiebstähle, Schwarzfahren, Fahren ohne Führerschein - es geht um kleinere Vergehen, bei denen regelmäßig Geldstrafen drohen. Die Beweislage ist in jenen Fällen fast immer eindeutig, möglicherweise haben zahlreiche Passagiere die Fahrkartenkontrolle beobachtet oder Kameras aufgezeichnet, wie die beschuldigte Person die Schokoladentafeln unter ihre Jacke schiebt. Die Staatsanwaltschaft könnte also Anklage erheben - oder eben einen Antrag auf Strafbefehl stellen. Der Vorteil von letzterem: Hält das Gericht den Antrag für plausibel, kann der Beschuldigte ohne Hauptverhandlung - also auch ohne angehört zu werden - verurteilt werden.
Ökonomischer kann ein Strafverfahren kaum sein. Die Verurteilung remote spart Platz, Personal und Zeit - ein Rettungsanker für die chronisch überlastete Justiz in Deutschland. Dass die Behörden angesichts der Masse an Verfahren ohne diesen Anker untergehen würden, zeigt ein Blick auf die Zahlen. 2022 stellten die Staatsanwaltschaften bundesweit 536.072 Anträge auf Strafbefehl. Damit endeten 15 Prozent aller Ermittlungsverfahren, die nicht mangels Tatverdachts eingestellt wurden, mit dem Antrag auf eine Verurteilung im Briefformat. Zum Vergleich: In nur 9,6 Prozent der Ermittlungen wurde Anklage erhoben und damit ein Prozess verfolgt.
97 Prozent aller Geldstrafen per Strafbefehl verhängt
Dünner wird die Datenlage bei der Frage, wie oft sich Gerichte auf die Anträge der Staatsanwaltschaften einlassen. Wie hoch der Anteil von Strafbefehlen unter den Verurteilungen ist, erfassen nur die wenigsten Bundesländer, wie Anfragen von ntv.de bei den Justizministerien ergeben haben. Dass der Anteil an Blitzverurteilungen auch bundesweit beachtlich sein dürfte, zeigt jedoch die Situation in jenen Ländern, die Daten erheben. So erhielten 2022 etwa in Baden-Württemberg rund 80.000 Menschen eine Geldstrafe. 97 Prozent davon, also nahezu alle, wurden per Strafbefehl verhängt. Ähnliche Zahlen meldet Nordrhein-Westfalen: Rund 107.000 Menschen erhielten 2022 eine Geldstrafe - knapp 80 Prozent davon per Strafbefehl. In Hamburg wurden im gleichen Jahr 88 Prozent aller beantragten Strafbefehlsverfahren auch rechtskräftig abgeschlossen.
Der Strafbefehl ist zweifellos ein Erfolgsgarant im Kampf gegen immer mehr unerledigte Verfahren und chronische Personalnot in der Justiz. Allerdings ist er ebenso unabdingbar wie umstritten. Denn das stark verkürzte Verfahren kratzt an einem der wichtigsten Grundsätze von Strafverfahren im Rechtsstaat: dem Schuldprinzip. Bevor das Gericht einen Menschen verurteilt, muss es von seiner Schuld überzeugt sein. Die Schuld bildet die Grundlage für das Strafmaß. Dabei spielt neben der Tatbegehung etwa auch der Hintergrund der Tat eine Rolle. Ebenso könnte der Angeklagte vermindert schuldfähig gewesen sein, möglicherweise war er zur Tatzeit betrunken oder psychisch krank. All das gilt es für das Gericht mittels Beweiserhebung in der Hauptverhandlung herauszufinden.
Doch genau diese gibt es im Strafbefehlsverfahren nicht. Der Beschuldigte steht gerade nicht neben dem Schreibtisch des Staatsanwalts oder Richters und erklärt, dass er die Salami für 3,10 Euro aus Hunger eingesteckt hat oder aufgrund seiner Demenz vergessen hat, sich ein Bahnticket für vier Euro zu kaufen. Das alles bleibt dem Richter im Zweifel verborgen. Allerdings muss er bei einem Strafbefehl auch nicht von der Schuld des Betroffenen überzeugt sein. Es reicht vollkommen aus, wenn er sie nach der Prüfung der Akte für wahrscheinlich hält.
Obdachlos, psychisch krank, drogenabhängig
Nun wäre der Angeschuldigte der Justiz damit schutzlos ausgeliefert, sein Recht auf rechtliches Gehör eindeutig verletzt. Das Strafbefehlsverfahren bietet ihm daher ein Abwehrmittel. Es befindet sich ganz unten auf den eineinhalb DIN-A4-Seiten aus seinem Briefkasten: Er habe zwei Wochen Zeit, Einspruch einzulegen, heißt es dort. Tut er das, geht die Sache doch vor Gericht und wird verhandelt. Tut er das nicht oder nicht rechtzeitig, wird der Strafbefehl rechtskräftig - und die Verurteilung landet im Strafregister. Durch die Möglichkeit des Einspruchs seien die strafprozessualen Grundsätze gewahrt, heißt es vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Macht der Betroffene keinen Gebrauch davon, verzichte er eben freiwillig auf eine mündliche Verhandlung.
Doch in diesem freiwillig könnte das Problem liegen. "Um von seinem Recht Gebrauch machen zu können, muss man es erst einmal verstehen", sagt Carolin Weyand, Vorsitzende der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger*innen im Gespräch mit ntv.de. "Aus der Praxis wissen wir aber, dass das nicht der Fall ist." So seien Strafbefehle eng mit Armutskriminalität verbunden und betreffen daher in erster Linie die Schwächsten der Gesellschaft. "Der typische Strafbefehlsempfänger ist obdachlos, psychisch krank, drogenabhängig oder ein armer Rentner", erklärt die Strafverteidigerin.
Ein großer Teil der Strafbefehle betreffe etwa Menschen ohne festen Wohnsitz. "Die Post geht dann oft an Zustellungbevollmächtigte, die am Amtsgericht sitzen und die Post entgegennehmen. Damit gilt der Strafbefehl als zugestellt", sagt Weyand. "Da besteht das Problem schon darin, dass der Brief von dem Strafbefehlsempfänger gegebenenfalls überhaupt nicht abgeholt und/oder geöffnet wird." Ähnlich sehe es bei Menschen aus, die psychisch krank und mental daher nicht in der Lage sind, ihre Post durchzuarbeiten. "Und selbst, wer den Brief öffnet, versteht die formalistische Sprache oft nicht. Wir gehen immer vom gebildeten Durchschnittsbürger aus", sagt die Strafverteidigerin. "Doch das ist gerade in diesem Bereich nicht die Realität."
Der Knick in der Rechtsstaatlichkeit
Damit dränge sich eine Frage auf, fährt Weyand fort. "Wir nehmen den Knick in der Rechtsstaatlichkeit von Strafbefehlen, die Ausdehnung des Grundsatzes "Keine Strafe ohne Schuld" und dass jeder grundsätzlich einen Anspruch auf eine Gerichtsverhandlung hat, wenn ihm eine Straftat vorgeworfen wird, hin, weil es die Möglichkeit des Einspruchs gibt. Aber wie gerechtfertigt ist dieser Knick noch, wenn ein Großteil der tatsächlichen Empfänger gar nicht versteht, dass es dieses Mittel gibt, geschweige denn, wie sie es anwenden können?" Mit einem freiwilligen Verzicht, wie ihn Karlsruhe voraussetzte, hätte dies nicht mehr viel zu tun.
Nun bedeutet nicht jeder Verzicht auf einen Einspruch, dass der Empfänger seine Rechte nicht verstanden hat. Es gebe zahlreiche Fälle, vor allem im Wirtschaftsstrafrecht, in denen der diskrete und schnelle Weg auch den Beschuldigten lieber sei als eine öffentliche Hauptverhandlung, erklärt auch Weyand. "Aber es macht eben einen Unterschied, ob jemand seine Rechte nicht wahrnehmen will oder ob er sie nicht wahrnehmen kann."
Weyand und ihre Kolleginnen und Kollegen fürchten, dass das Strafbefehlsverfahren zunehmend zu einer Bestrafung der Armen und Schwachen führt. Um ihren Eindruck mit Daten zu belegen, haben sie jüngst ein wissenschaftliches Projekt gestartet: Sie bieten unverteidigten Empfängerinnen und Empfängern von Strafbefehlen aus Hessen kostenlos für ein Jahr lang Strafverteidigung an. In Zusammenarbeit mit der Goethe-Universität Frankfurt erfassen die hessischen Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger um Weyand gleichzeitig, wer für welche Delikte Adressat von Strafbefehlen ist, welche Strafen ihn treffen und welchen Einfluss juristische Beratung hat.
Ins Gefängnis, ohne einen Richter gesehen zu haben
Ein vom Staat bezahlter Verteidiger steht nur den wenigsten Empfängern von Strafbefehlen zu. So darf etwa eine Freiheitsstrafe per Strafbefehl nur verhängt werden, wenn der Empfänger einen Strafverteidiger hat. "Da ist dann jemand mit Sachverstand dabei", sagt Weyand. "Das Problem sind daher die Geldstrafen", die mit Abstand den größten Teil der Strafbefehle ausmachen.
Denn: Wer eine Geldstrafe nicht bezahlt, muss in Ersatzhaft. In Deutschland sitzen jährlich Zehntausende im Gefängnis, weil sie ihre Geldstrafe - oft für kleinste Vergehen - nicht zahlen können. Mit rund zehn Prozent aller Inhaftierten ist der Anteil an Ersatzfreiheitsstrafen keineswegs gering. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Verurteilten ihre Strafe nicht zahlen wollen - oder können.
Weyand beschreibt eine Art Teufelskreis: "Die meisten Strafbefehlsempfänger stehlen ja gerade oder fahren schwarz, weil sie es sich nicht leisten können. Die Geldstrafe, zu der sie verurteilt werden, können sie dann natürlich auch nicht bezahlen." Damit seien Strafbefehle und Ersatzfreiheitsstrafen in der Praxis eng miteinander verbunden. "Die Menschen gehen in Haft, ohne für die Tat einen Richter gesehen zu haben", fasst die Strafverteidigerin das Problem zusammen. Denn wer keinen Einspruch einlegt und seine Geldstrafe nicht bezahlen kann, "landet ohne Verhandlung im Gefängnis".
Strafbefehlsverfahren ausweiten?
Nun ist eine funktionierende Justiz ohne Strafbefehlsverfahren kaum denkbar. Schon jetzt stapeln sich die unerledigten Fälle auf den Tischen der Staatsanwaltschaften. Erst kürzlich schlug der Deutsche Richterbund Alarm: Die "personal ausgezehrte" Strafjustiz könne den steigenden Fallzahlen immer schlechter Herr werden. Die Justizminister der Länder fordern daher bereits seit Herbst 2022, das Strafbefehlsverfahren auszuweiten - das Ergebnis wären noch mehr Verurteilungen per Post. Konkrete Gesetzesvorhaben gibt es derzeit nicht. Allerdings setze sich Bundesjustizminister Marco Buschmann sich im Rahmen aktueller Gesetzesvorhaben mit der Prüfbitte der Länder auseinander, heißt es auf Nachfrage von ntv.de vom Ministerium.
Weyand sieht das kritisch. "Man kann das Strafbefehlsverfahren ausweiten", sagt die Strafverteidigerin. "Aber eben nicht, ohne den rechtsstaatlichen Knick auszugleichen, den es schon jetzt gibt." Weyand und ihre Kolleginnen und Kollegen fordern daher "Kein Strafbefehl ohne Verteidigung". Das sei zwar eine freche Forderung, räumt die Juristin ein, es mache aber den Kern des Problems deutlich: "Wir können die Justiz nicht auf Kosten der Schwächsten unserer Gesellschaft entlasten."
Denn alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, so garantiert es das Grundgesetz. Rechtlich darf niemand einen Vor- oder Nachteil haben, egal ob Banker, Anwalt, Rentner oder Obdachloser. An dieser essenziellen Säule des Rechtsstaats, so Weyand, "kratzt der Strafbefehl in seiner derzeitigen Form aber leider gewaltig".
Quelle: ntv.de