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Illegale Deals vor Gericht Justiz betreibt zweifelhaften Handel mit Gerechtigkeit

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Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Deal sind streng - und werden häufig umgangen.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Deal sind streng - und werden häufig umgangen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Seit Jahrzehnten wird vor Gericht mit Geständnissen und Strafrabatten gehandelt. Zuletzt profitiert auch Ex-Audi-Chef Stadler von dieser Praxis. Dabei ignorieren die Rechtsvertreter jedoch häufig ihre Grenzen, wie Studien zeigen. Das birgt große Gefahren für die Grundsätze des Strafverfahrens.

Ex-Audi-Chef Rupert Stadler bleibt auf freiem Fuß. Das hat das Landgericht München diese Woche beschlossen. Der Manager war nicht nur über zehn Jahre Teil der Spitze des Volkswagen-Konzerns, er ist auch einer der Verantwortlichen für den Diesel-Skandal, der 2015 die gesamte Branche erschütterte. Unzählige Kunden wurden getäuscht - der Schaden beträgt fast 80 Milliarden Euro. Ein Jahr und neun Monate auf Bewährung sowie eine Geldauflage hat Stadler dafür bekommen. Ins Gefängnis muss er für den bisher größten Skandal der Automobilbranche jedoch nicht.

Grund dafür ist ein Deal zwischen Stadler und der Justiz. Bei dieser Art von Absprachen vor Gericht verhandeln Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidigung einen Kompromiss, der folgendermaßen lautet: Legt der Angeklagte ein Geständnis oder Teil-Geständnis ab, verständigen sich die drei Parteien im Gegenzug auf einen Rahmen, in dem seine Strafe liegen könnte. Konkret bedeutet das: Stadler durfte von seiner milden Strafe kaum überrascht sein. Im März dieses Jahres machte das Gericht dem 60-Jährigen, der bis dahin auf seine Unschuld pochte, ein Angebot und stellte ihm eine Bewährungsstrafe in Aussicht. Kurz darauf legte Stadler ein Geständnis ab.

Solche Deals sind angesichts der Fülle von Fällen, die die Justiz bewältigen muss, notwendig. Sie sind auch erlaubt, zumindest unter strengen gesetzlichen Voraussetzungen. Allerdings nehmen es viele Rechtsvertreter offenbar nicht so genau mit diesen Kriterien: Studien zeigen, dass illegale Absprachen an deutschen Gerichten zum Alltag gehören.

Deals haben klare Grenzen

2009 verankerte der Gesetzgeber die Absprachen in der Strafprozessordnung. Dort heißen sie nun Verständigung, was deutlich mehr nach wohlwollendem Einvernehmen als nach Hinterzimmer-Klüngelei klingt. Denn genau damit sollte Schluss sein, wurden die Absprachen doch schon Jahrzehnte vor den gesetzlichen Regelungen mit teils fragwürdiger Legitimität praktiziert.

Dafür setzte der Gesetzgeber klare Grenzen: So darf das Gericht dem Angeklagten etwa niemals eine konkrete Strafe anbieten. Lediglich die Aussicht auf einen Rahmen, zum Beispiel zwischen zwei und vier Jahren Haft, ist erlaubt. Verhandlungen über die Frage der Schuld sind von vornherein ausgeschlossen und das Gericht darf ein Geständnis auf keinen Fall einfach für bare Münze nehmen, sondern muss es stets überprüfen. Zudem muss jeder Teil der Verständigung dokumentiert werden.

Innerhalb dieser Grenzen gibt es durchaus wichtige Gründe für Absprachen im Strafverfahren. Zu den wichtigsten gehört der Faktor Zeit. Gesteht der Angeklagte die Tat, bewahrt dies das chronisch überlastete Gericht vor einer oft monatelangen Beweiswürdigung.

Illegale Deals an der Tagesordnung

Nicht selten steckt der Staat bei seinen Bemühungen um Aufklärung fest. Der Deal kann also hin und wieder die einzige Chance sein, überhaupt ein Ergebnis zu erzielen. In anderen Verfahren, etwa bei Sexualdelikten, kann ein frühes Geständnis dem Opfer eine unangenehme, im schlimmsten Fall retraumatisierende, Aussage ersparen.

Mit der gesetzlichen Regelung sollte dieser offensichtlichen Notwendigkeit für ein Stück Pragmatismus Rechnung getragen werden. Gleichzeitig sollte das Gesetz dafür sorgen, dass die Strafjustiz nicht zu einem Basar für Geständnisse und Strafrabatte wird. Letzteres gelang jedoch kaum, wie das Bundesverfassungsgericht schon 2013 feststellte. Die Verfassungsrichter stellten Deals damals zwar nicht generell infrage, attestierten der Justiz aber ein "erhebliches Vollzugsdefizit". Das Gesetz schrammte damit zwar gerade so an der Verfassungswidrigkeit vorbei, doch für den Gesetzgeber gab es eine Warnung: Er müsse die Entwicklung im Auge behalten und wenn nötig gegensteuern.

An dem Gesetz hat sich seitdem nichts geändert - und an der Realität in Gerichten auch nicht. Wer vor Gericht dealt, bricht dabei nicht selten die Regeln. Das fand eine Studie der Universität Tübingen und der Goethe-Universität in Frankfurt im Auftrag des Bundesjustizministeriums heraus. Demnach gaben 80 Prozent der befragten Rechtsanwälte an, an Deals beteiligt gewesen zu sein. Unter den Richtern waren es fast ein Drittel, bei den Staatsanwälten knapp 60 Prozent. "Das ist aus gleich mehreren Gründen alarmierend", sagte der Strafrechtler und Mitautor der Studie, Matthias Jahn, zu den Ergebnissen. So handeln die professionellen Prozessbeteiligten das Urteil oft unter sich aus - der Angeklagte, um den es im Verfahren geht, sei dann nicht einmal an der Urteilsfindung beteiligt.

Die Gefahr der "Sanktionsscheren"

Vor allem aber werde der Aspekt der Schuld frei verhandelbar, mahnte Jahn. Der Schuldgrundsatz ist einer der wichtigsten Pfeiler im Strafverfahren. Danach darf für die Höhe der Strafe einzig die Schuld des Angeklagten ausschlaggebend sein - nicht die Frage, ob er dem Gericht einen langen und kostspieligen Prozess erspart hat. Nun ist es bei einem Strafrahmen, der dem Angeklagten im Rahmen eines Deals vorgeschlagen wird, eher möglich, auf spätere Entwicklungen im Verfahren zu reagieren, die sich auf die Schuld des Angeklagten auswirken. Dazu wirkt ein Geständnis in der Regel strafmildernd, auch ohne Deal. Vereinbaren die Parteien vor dem Ende der Beweisaufnahme hingegen eine konkrete Strafe, gibt es überhaupt keine Möglichkeit mehr, auf mögliche Entwicklungen zu reagieren. Die Schuld spielt in diesem Fall zwangsläufig nur noch eine untergeordnete Rolle.

Zudem rütteln die Beteiligten illegaler Deals häufig am Amtsermittlungsgrundsatz des Gerichts. So gehört die Aufklärung des Falles, die umfangreiche Beweisaufnahme, eigentlich zu den wichtigsten Aufgaben der Richter, daran ändert sich auch bei Absprachen nichts. In der Praxis sieht dies laut der Studie jedoch häufig anders aus: Die Beweisaufnahme wird plötzlich stark gekürzt und Geständnisse werden nicht richtig überprüft.

Jörg Kinzig, Professor für Strafrecht an der Universität Tübingen und ebenfalls Autor der Studie, weist in diesem Zusammenhang auf die immer wieder vorkommenden, wenn auch verbotenen "Sanktionsscheren" hin: "In dem Fall drängen die Gerichte den Angeklagten zu einem Geständnis, indem sie ihm zwei sehr unterschiedliche Strafen in Aussicht stellen", erklärt Kinzig im Gespräch mit ntv.de. Im Falle eines Geständnisses locke ihm etwa eine Bewährungsstrafe, andernfalls drohe Gefängnis. "Im schlimmsten Fall verleitet das einen Angeklagten dazu, eine Tat zu gestehen, die er nicht begangen hat", sagt der Strafrechtler.

Schöffen außen vor

Jüngst stieß Kinzig auf einen weiteren wichtigen Pfeiler von Strafverfahren, der bei Verständigungen häufig missachtet wird: die Schöffen. Die Laien haben bei der Urteilsfindung grundsätzlich das gleiche Stimmrecht wie die Berufsrichter. In Absprachen mit der Anklage und der Verteidigung werden sie allerdings häufig gar nicht erst mit eingebunden, wie Kinzig gemeinsam mit dem Kriminologen Benedikt Iberl herausfand. "Dieser Befund ist brisant", sagen die Autoren. Denn wenn die Laienrichter regelmäßig von Absprachen ausgeschlossen werden oder aufgrund mangelndem Verständnis kaum Einfluss auf den Inhalt nehmen können, drohe ein "Funktionsverlust des Schöffenamtes".

Schließlich mahnen viele Kritiker ein weiteres Problem von Absprachen an. So befeuern die Deals vor Gericht, ob legal oder illegal, die Ungerechtigkeit vor dem Richter - und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen hängt die Wahrscheinlichkeit, als Angeklagter einen Deal angeboten zu bekommen, vom Delikt ab. "Zu Verständigungen kommt es häufiger bei Verfahren mit viel Verhandlungsmasse und schwieriger Beweislage", erklärt Kinzig. Das seien etwa Betäubungsmittelprozesse und vor allem Wirtschaftsstrafsachen. Aber auch Sexualstraftaten gehören dazu, etwa um dem Opfer ein Auftreten in der Hauptverhandlung zu ersparen. Damit ist Stadler das Paradebeispiel für Angeklagte, die von Deals profitieren. Beschuldigte, bei denen sich die Tat leicht nachweisen lässt, wie zum Beispiel Ladendiebe, haben hingegen kaum eine Chance auf diese Art von Strafrabatt.

Zum anderen werden Absprachen leicht zur Gerechtigkeitslücke für jene, die sich keinen teuren Anwalt leisten können. Engagiert verteidigende Anwältinnen und Anwälte können Strafkammern auf Monate mit Zusatzarbeit beschäftigen, erklärte der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem Buch "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich". Dadurch machen sie einen Deal, der die Justiz und den Beschuldigten entlastet, attraktiv. Vor Amtsgerichten besteht zudem das Problem, dass nicht jeder Angeklagte einen Verteidiger hat. Richter und Staatsanwälte verhandeln jedoch nur mit Anwälten.

"Gesetz muss praxistauglicher werden"

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Der Balanceakt bei Verständigungen, das wird deutlich, droht häufig zulasten wichtiger Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahren zu kippen. Ein vollständiger Verzicht würde die Justiz jedoch an vielen Stellen lahmlegen, das zeigt nicht zuletzt der Fall Stadler. Immerhin biss sich das Landgericht München bis zur Absprache bereits über zweieinhalb Jahre die Zähne an dem Manager aus.

Deals seien "unverzichtbar für eine arbeitsfähige Justiz", brachte es Studienautor Jahn auf den Punkt. Allerdings müsse das Gesetz dringend praxistauglicher gemacht werden. Vor drei Jahren kündigte das Bundesjustizministerium eine Prüfung in diese Richtung an. Seitdem ist, soweit öffentlich bekannt, nichts geschehen.

Quelle: ntv.de

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