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Impfsorge oder Bildungskritik?Immer mehr Südtiroler Kinder in Katakomben-Schulen

20.11.2021, 16:09 Uhr imageVon Andrea Affaticati, Mailand
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In den Südtiroler Tälern werden immer mehr Kinder zu Hause unterrichtet. (Foto: imago images/Eberhard Thonfeld)

An die 600 Kinder werden in diesem Schuljahr in Südtirol zu Hause oder in geheimen Einrichtungen in den Tälern unterrichtet. Die Politiker sprechen von Verweigerern der 3G-Regel, die betroffenen Eltern verwahren sich gegen diesen Vorwurf.

In den Medien ist die Rede von Katakomben-Schulen, von geheimen Unterrichtungsstätten irgendwo in den Tälern. Mal sollen es Bauernhöfe, mal Gaststätten sein, in denen die Schülerinnen und Schüler, die nicht mehr den normalen Unterricht besuchen, unterrichtet werden. Es heißt, 600 Südtiroler Kinder vornehmlich im Grundschul- und Unterstufenalter seien in diesem Jahr im Homeschooling, unterrichtet von den Eltern oder in Gruppen von angeheuerten Privatlehrern.

Dabei handle es sich um Eltern, die "ausschließlich zur No-Vax-, No-Green-Pass-, zur No-Test- und No-Mask-Bewegung zählen", las man unlängst in einem Beitrag der "Neuen Südtiroler Tageszeitung". In Italien besteht zwar keine Impfpflicht für Lehrer und Schulpersonal, aber eine 3G-Pflicht. Die SchülerInnen tragen Mundschutz auch während des Unterrichts.

Anfang Oktober hatte auch der Südtiroler Schullandesrat Philipp Achammer, der für den deutschsprachigen Unterricht zuständig ist, in einer Stellungnahme zu diesem Thema von 575 Homeschooling-Fällen gesprochen. Die Zahl hat sich im Vergleich zum vorigen Schuljahr, wo es um 125 Schüler und Schülerinnen ging, mehr als vervierfacht. Außerdem handelt es sich zum Großteil um deutschsprachige Familien, die sich für diesen Weg entschieden haben. "Freilich, die italienische Verfassung spricht den Eltern das Recht zu, ihre Kinder selber zu unterrichten", hob Achammer hervor. "Es kann aber nicht sein, dass die SchülerInnen wegen der Covid-Vorschriften aus der Schule genommen, gerissen werden. Kinder haben ihrerseits das Recht, den normalen Unterricht besuchen zu dürfen."

Es ist nicht leicht, mit den Eltern in Kontakt zu treten, die sich für den Hausunterricht entschieden haben. Zu groß ist ihr Misstrauen gegenüber Journalisten, die ihrer Ansicht nach nicht mehr imstande sind, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Am Ende gelingt es ntv.de aber doch, unter der Bedingung der absoluten Anonymität mit jemandem Kontakt aufzunehmen.

Historische Katakomben-Schulen

Schon der Begriff Katakomben-Schulen, den ein italienischer Journalist ausgegraben hat, sei vollkommen daneben, tendenziös eben, heißt es im Gespräch. Diese Schulen gab es in Südtirol während des Faschismus. Mussolini hatte sich vorgenommen, das 1920 von Italien annektierte Südtirol zu italienisieren und deshalb verboten, in den Schulen auf Deutsch zu unterrichten. Die deutschsprachige Bevölkerung nahm das nicht tatenlos hin, sondern trickste die Behörden aus. Sie schickten ihre Kinder am Vormittag in die italienische Schule und unterrichtete sie dann am Nachmittag in geheim gehaltenen Orten auf Deutsch.

Hier gehe es aber nicht um einen Widerstand gegen die 3G-Pflicht, lautet die jetzige Erklärung. Unter den Eltern der Kinder, die Homeschooling machen, gebe es sicher auch die einen oder anderen, die mit den Covid-19-Vorschriften nicht einverstanden seien, genauso gebe es unter diesen aber auch welche, die sehr wohl geimpft seien, berichtet der Insider.

Der eigentliche Grund, der die Familien bewogen hat, sich selber um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern, sei in erster Linie dem Unterrichtschaos im letzten Schuljahr zuzuschreiben, also der Politik, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Im Herbst 2020 ging es dem Unterrichtsministerium viel mehr um Einzelschulbänke mit Rädern als um neue Filteranlagen in den Klassen. Die Unterrichtsstunden wurden reduziert, in den beiden Lockdowns blieben Eltern und Lehrer vollkommen auf sich gestellt. Daher der Entschluss, sich dieses Jahr selber um die Bildung seiner Kinder zu kümmern.

Wo unterrichtet wird, bleibt geheim

Die einen übernehmen die Aufgabe selber. Andere heuern Lehrkräfte an, von denen sich dieses Jahr etliche in den Wartestand versetzen haben lassen, sowie Freude, Bekannte, die über spezifische Fachkenntnisse verfügen und oft den Kindern den Lernstoff sogar besser vermitteln können. Wo der Unterricht stattfindet, bleibt aber ein Geheimnis.

Während dieser Monate seien viele Eltern zu dem Schluss gekommen, dass es gar nicht so dumm sei, die Kinder zu Hause zu unterrichten. Dass das Abgeben der Kinder an die Bildungsstätten, das in den letzten Jahrzehnten immer mehr, auch von der Politik, forciert wurde, nicht unbedingt die beste Lösung sein muss. Viele Eltern hätten wieder die Möglichkeit entdeckt, sich mit ihrem Kind selbst rund um die Uhr zu beschäftigen. Beziehungsweise mit ihren Kindern, denn es handelt sich hauptsächlich um Familien mit mehreren Kindern.

Auf die Frage, warum es sich um vorwiegend deutschsprachige Schüler und Schülerinnen handle, kommt die Antwort, das liege in der unterschiedlichen Familienstruktur. Viele der italienischen Familien seien wegen der Arbeit nach Südtirol gezogen, während der Rest der Angehörigen anderswo in Italien lebt. Die Deutschsprachigen würden sich stattdessen auf Großfamilien stützen. Ein Beweis hierfür seien die Kinderkrippen, in denen die italienischsprachigen Kinder in der Mehrzahl sind.

Versuch der Kontrolle

Doch obwohl die italienische Verfassung den Eltern das Recht auf Heimunterricht anerkennt, macht den Landespolitikern die diesjährige hohe Zahl derer, die das nutzt, zu schaffen. Deswegen hat die Landesregierung Anfang Oktober im Schnellverfahren neue Regeln zum Elternunterricht verabschiedet.

Die bis dato und im Rest Italiens weiter gültigen Regelungen sehen vor, dass die Schülerinnen und Schüler im Homeschooling am Ende der Unterstufe, also in der 8. Klasse, eine Prüfung ablegen müssen, um in die Oberstufe aufzusteigen. In den Jahren dazwischen ist stattdessen ein Übertrittsgespräch nur dann erforderlich, wenn sie wieder zum normalen Schulunterricht angemeldet werden.

Die neuen Regeln in Südtirol sehen stattdessen ein Beratungsgespräch für die Eltern und Unterrichtsbesuche zur Kontrolle des Lernfortschrittes vor. Aber noch nicht geklärt wurde, ob diese neuen Regeln schon für das laufende Schuljahr gültig sind oder nicht.

Quelle: ntv.de

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