
Auch wenn die Impfung das sicherste Mittel ist, um nicht schwer zu erkranken und andere anzustecken, können sich viele nicht dazu entschließen.
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In der Corona-Pandemie zeigen Daten viele Zusammenhänge. Einer scheint zu sein, dass Länder, in denen deutsch gesprochen wird, besonders viele Impfverweigerer haben. Ist das so? Und wenn ja, warum?
Die Zahlen sind eindrücklich: 33,6 Prozent Ungeimpfte in der Schweiz, 32,2 Prozent in Österreich, 29,9 Prozent in Deutschland. Im Westeuropa-Vergleich sind die deutschsprachigen Länder echte Impfmuffel. Zu diesem Urteil muss man geradezu kommen - vor allem, wenn man sich Portugal mit einem Ungeimpftenanteil an der Bevölkerung von gerade mal 11,1 Prozent anschaut oder Spanien mit 18,4 Prozent. So dachte es auch die "Financial Times", die mit den Daten ein eher atmosphärisches Stück bestritt.
Aber kann Sprache bei der Impfskepsis verbinden? Oder ist es die räumliche Nähe der ja auch benachbarten Staaten? Sind es historische, strukturelle oder sozioökonomische Gemeinsamkeiten? Oder doch nur Zufall? Wie so oft ist die Antwort nicht ganz einfach. Der Soziologe Oliver Nachtwey verweist darauf, dass es sich prinzipiell bei Deutschland, Österreich und der Schweiz um industrialisierte Länder mit einem starken Föderalismus und einem schwachen Zentralstaat handelt. Im Interview mit dem österreichischen "Standard" betont er aber auch kulturelle Gemeinsamkeiten der drei Länder.
Die Verbindungen zwischen den Ländern sind auf vielen Ebenen eng, nicht umsonst fassen viele Unternehmen sie unter dem Begriff D-A-CH zusammen, D für Deutschland, A für Austria und CH für die Schweiz. In den Grenzregionen pendeln viele Arbeitnehmer. Wenn nicht gerade Pandemie ist, finden zwischen den EU-Ländern Deutschland und Österreich keine Grenzkontrollen statt. Auch mit der Schweiz sind durch den Schengen-Raum viele Kontakte sehr einfach.
Viele Faktoren, wenig Forschung
Allerdings ist der Zusammenhang zwischen Impfskepsis und gemeinsamer Sprache ja nur eine Annahme, die nun mit wissenschaftlichen Methoden untersucht werden müsste. Dabei könnte sich dann genauso gut herausstellen, dass Sprache ein unbedeutender Faktor in den kausalen Zusammenhängen ist. Immerhin wird in Teilen der Schweiz auch Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch gesprochen, in Österreich Kroatisch, Slowenisch und Ungarisch. Aber noch gibt es diese wissenschaftlichen Untersuchungen nicht.
Nachtwey stellt allerdings einen Zusammenhang zwischen dem Impfzögern mit den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen her. Im schweizerischen Genf haben am Wochenende mehrere Tausend Menschen gegen geltende und geplante Corona-Maßnahmen protestiert. Auf Plakaten und in Sprechchören prangerten die Demonstranten sogenannte "Zwangsimpfungen", "Massenüberwachung" und "Diskriminierung" an. Das Land will am 28. November in einer Volksabstimmung über ein neues Pandemie-Gesetz abstimmen, das den rechtlichen Rahmen für einen Corona-Pass und für weitere Möglichkeiten zur Kontaktnachverfolgung schaffen soll. In Österreich prangert die rechtsgerichtete FPÖ schon seit Monaten die Corona-Einschränkungen an und kritisiert die Impfstrategie. Als Reaktion auf den am Wochenende beschlossenen Lockdown für Ungeimpfte rief FPÖ-Chef Herbert Kickl am Sonntag zu einer Demonstration am nächsten Samstag in Wien auf. Das Land habe nun ein "Corona-Apartheidsystem", schrieb Kickl auf Facebook.
In Deutschland ist der Ton in manchen Kreisen ähnlich rau. Es kommt immer wieder zu Demonstrationen, vor allem aber sehen Extremismusexperten eine deutliche Radikalisierung von Gegnern der Corona-Maßnahmen und Leugnern der Pandemie. Im Internet werden Debatten um mögliche Nebenwirkungen der Impfstoffe beispielsweise mit Verschwörungstheorien verwoben. Seit dem Tankstellenmord von Idar-Oberstein ist deutlich, dass auch Gewalttaten aus der Corona-Leugner-Szene heraus möglich sind.
Alternativ, staatsfern, unsolidarisch
"Meine Untersuchungen zeigen, dass in den Protestmilieus Anthroposophie, Esoterik und antiautoritäres Denken, wie man es aus den linksalternativen Protestmilieus der 1980er-Jahre kennt, häufig zusammen auftreten. Diese Leute wollen sich alle auch nicht impfen lassen", sagt Nachtwey.
In Deutschland, Österreich und der Schweiz seien als Folge der 1968er Bewegung Alternativmilieus entstanden, in denen es auch um eine andere Form der Lebensführung gegangen sei. Inzwischen habe man sich von linken Überzeugungen weitgehend verabschiedet "und sich auf eine innere und äußere Selbstverwirklichung orientiert".
In diesen Gruppen spiele Esoterik und Spiritualismus eine große Rolle. Um sie dem staatlichen Bildungssystem zu entziehen, besuchten viele Kinder solcher Eltern Waldorfschulen. Es gebe auch eine starke Hinwendung zu alternativer Medizin und anthroposophischen Auffassungen. "Es geht in diesen Strömungen vor allem um eine Form von Ganzheitlichkeit, Selbstverwirklichung und Körpersouveränität. Und das Impfen wird nun als autoritärer Eingriff des Staates wahrgenommen." Im Grunde gehe es um "radikalen Individualismus", so Nachtwey. Das Impfen werde dort auch nicht als solidarischer Akt wahrgenommen.
Dabei handelt es sich aus Sicht des Soziologen durchaus um Gruppen mit höherer Bildung. "Sie hätten die Fähigkeit, wissenschaftliche Expertisen zu sehen. Was sie aber haben, ist eine starke Autoritätsskepsis. Und gleichzeitig trauen sich diese Menschen zu, aufgrund ihrer teils hohen Bildung Wissenschaft selbst zu beurteilen." Dabei greifen sie dann allerdings auf Fake News zurück. An dieser Stelle schließe sich der Kreis zu rechtspopulistischen Parteien. Auch dort werde Solidarität verweigert, gleichzeitig würden Wissenschaftssysteme angegriffen.
Europäer schon immer zögerlicher
In einer weltweiten Studie zum Impfverhältnis der verschiedenen Länder kamen Forscher 2016, also weit vor der emotionalen Debatte um die Corona-Impfung, zu dem Ergebnis, dass sieben der zehn impfzögerlichsten Länder in Europa liegen. Die Plätze eins bis zehn in diesem Ranking belegten: Frankreich, Bosnien und Herzegowina, Russland, Ukraine, Griechenland, Armenien, Slowenien, Japan und Mongolei. Für Deutschland kamen die Forscher vor fünf Jahren und mit allgemeinen Fragen zur Bewertung von Impfungen zu einem Bevölkerungsanteil von 10,5 Prozent, die Impfbedenken haben. Der Wert liegt knapp unter dem internationalen Durchschnitt. Die Schweiz und Österreich waren in der 67 Länder umfassenden Studie nicht berücksichtigt.
Schon damals schlussfolgerten die Forschenden um Studienautorin Heidi Larson von der London School of Hygiene and Tropical Medicine, dass es in ärmeren Ländern deutlich mehr Vertrauen in Impfstoffe gibt als im verhältnismäßig deutlich reicheren Europa. Die stärksten Impfüberzeugungen hatten damals Menschen in Bangladesch, Ecuador und Iran.
Im gesamteuropäischen Vergleich liegen die deutschsprachigen Länder bei den Corona-Impfungen übrigens eher im Mittelfeld. Die meisten Ungeimpften gibt es hingegen in Osteuropa. Südeuropa verzeichnet hingegen die wenigsten Menschen ohne Corona-Immunisierung. Dort wird allerdings Portugiesisch, Spanisch und Italienisch gesprochen. Und es handelt sich um die Länder, die in der ersten Welle unfassbar viele Tote zu beklagen zu hatten. Das dürfte die Impfbereitschaft deutlich erhöht haben.
Quelle: ntv.de