Alarmierende ZeichenKönnte Belgien der erste Narco-Staat Europas werden?
Solveig Bach
Korrupte Polizei und Justiz, Gewalt und Geldwäsche, staatliche Strukturen, in denen Drogenkartelle das Sagen haben. In "Narco-Staaten" ist das Normalität. Bisher waren diese meist weit weg, doch nun lässt eine Entwicklung in Belgien aufhorchen.
In den späten 1980er Jahren kam für die Länder Lateinamerikas, die stark in die Drogenproduktion und den Drogenhandel involviert waren, der Begriff Narco-Staaten auf. Abgeleitet vom spanischen Wort für Drogenhandel "narcotráfico" beschreibt er die Durchdringung der legalen Wirtschaft und zahlreicher staatlicher Institutionen durch Drogengeld. Zunächst für Kolumbien, Peru und Bolivien verwendet, wurden später auch Mexiko, Afghanistan oder Guinea-Bissau so bezeichnet.
Nun könnte Belgien das erste Land in Europa werden, das die Kriterien erfüllt, die mit Narco-Staaten in Verbindung gebracht werden. Eine Untersuchungsrichterin aus Antwerpen warnte Ende Oktober in einem offenen Brief an den Justizausschuss des Parlaments, das Land entwickele sich zu einem Drogenstaat. Die Drogenmafia habe das Land bereits unterwandert, so die Juristin, die sich wegen ihrer Arbeit eigenen Angaben zufolge bereits monatelang in einem sicheren Haus verstecken musste.
"Weitverzweigte mafiöse Strukturen haben sich verankert, sind zu einer parallelen Macht geworden, die nicht nur die Polizei, sondern auch die Justiz herausfordert", schrieb sie. Organisierte Kriminalität untergrabe die Institutionen. Auch in Brüssel und Antwerpen setzten Banden auf Mord, Folter und Entführungen.
Belgien ist ein wichtiger Umschlagplatz für Kokainlieferungen nach Europa. Auch wenn die Gesamtmengen durch verstärkte Kontrollen leicht zurückgegangen sind, bleibt vor allem der Hafen von Antwerpen weiterhin das Haupteinfallstor für lateinamerikanisches Kokain nach Europa. Allein im ersten Halbjahr 2025 wurden dort mehr als 16 Tonnen Kokain entdeckt und konfisziert. Der stetige Nachschub allein an frischem Obst für Europa bietet die perfekte Tarnung für die Schmuggelware.
10 Minuten Arbeit, 100.000 Euro
Mehr Zollpersonal und neue Scannertechnologien sollen den Drogenhandel erschweren, doch die Kartelle haben ihre eigenen Mittel, die Drogen vom Schiff und in den Handel zu bringen. "Kriminelle Organisationen erkaufen die Kooperation der Hafenarbeiter oder bedrohen sie", zitiert das Magazin "Politico" aus dem Schreiben der Untersuchungsrichterin. "Für das Umsetzen eines Containers, eine Arbeit von 10 Minuten, erhalten sie 100.000 Euro und 50.000 Euro pro bewegter Sporttasche, manchmal sogar das Zwanzigfache." Ein Kranführer am Antwerpener Hafen sagte im flämischen Öffentlichen Rundfunk, die Kartelle böten bis zu 200.000 Euro für Dienste, die oft nur fünf Minuten dauerten. Einen Container an einen anderen Ort hinzustellen als eigentlich vorgesehen zum Beispiel.
Die Drogenbanden konzentrieren sich jedoch längst nicht mehr nur auf Hafenarbeiter oder Zöllner. Belgischen Medien zufolge breiten sich die "Tentakel der Drogenkartelle" inzwischen bis in die Korridore der belgischen Regierung aus. Die Korruption durchdringe die Institutionen von Grund auf, schreibt die Richterin. Die von ihr in den letzten Jahren geleiteten Ermittlungen hätten zur Verhaftung wichtiger Hafenmitarbeiter, Zollbeamter, Polizisten, Gefängnispersonal und sogar Personal am Antwerpener Gericht geführt. Und sie sei nur eine von 17 Untersuchungsrichterinnen und -richtern in Antwerpen.
Bei der Vorstellung des neuen Sicherheitskonzepts am Hafen von Antwerpen Anfang der Woche räumte die belgische Justizministerin Annelies Verlinden ein, sie sei nicht überrascht von diesen Einschätzungen. Man beobachte gerade, wie kriminelle Netzwerke versuchten, die Straßen zu übernehmen. Sie führten Krieg um Geschäftsgebiete. "Ein Anschlag mit einer Bombe oder Kriegswaffen, ein Einbruch oder eine Entführung können alle problemlos online bestellt werden", warnte die anonyme Richterin. Man müsse dafür nicht mal ins Darknet, Snapchat reiche aus.
Mehr Schießereien und eine Warnung
Die Auswirkungen sind offensichtlich, sie zeigen sich unter anderem am Anstieg der Straßenkriminalität. Gab es 2023 noch etwa 300 Vorfälle von Waffengewalt im Land, sind es 2025 schon jetzt mehr als 500. Die meisten davon sind Schießereien, die mit der Drogenszene in Verbindung stehen.
Der Investigativ-Journalist und Podcaster Mitchell Prothero sieht trotzdem noch nicht das gleiche Maß an Unterwanderung staatlicher Strukturen wie in Lateinamerika erreicht. "Das viele Geld wirkt destabilisierend. Aber es reicht nicht für Pablo-Escobar-Szenarien, bei denen sich Drogen-Bosse Parteien kaufen", lautet seine Einschätzung. "In Ländern wie Kolumbien oder Mexiko kann das organisierte Verbrechen Politik und Justiz direkt beeinflussen."
Die Sorge nennt er trotzdem berechtigt. Belgien hinke "zum Teil wegen der dysfunktionalen Struktur, zu vielen föderalen Ebenen und Behörden" bei der Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität erheblich hinterher. "Die Niederlande sind mittlerweile wehrhafter." Sie hätten inzwischen beispielsweise Abkommen, um die Drahtzieher, die häufig in Dubai säßen, auszuliefern.
Davon könne auch Deutschland lernen, dessen Häfen interessanter für die Banden werden, wenn der Fahndungsdruck anderswo steigt. "Belgien ist eine Warnung an Europa: Wenn die Nachfrage hoch bleibt und Häfen offen sind, kommen enorme Mengen von allem an. Es ist naiv zu glauben, dass Drogen nicht Teil eines Systems sind, in dem man gewohnt ist, alles jederzeit schnell und günstig bestellen zu können." Beim Terrorismus habe man schmerzhaft lernen müssen, wie wichtig regionale Zusammenarbeit ist. Außerdem rät Prothero Deutschland seine innenpolitischen Probleme genauer anschauen. Dazu zählt er Clans, Rockergruppen und die italienische Mafia, die hierzulande bei Geldwäsche vom Datenschutz profitieren.
Auf einer Hafensicherheitskonferenz vor wenigen Tagen in Hamburg standen die internationale Drogenkartelle im Zentrum. Hamburg hatte bereits vor zwei Jahren eine Allianz mit Rotterdam und Antwerpen gebildet. Inzwischen gibt es ein Hafensicherheitszentrum in der Hansestadt, in dem alle Hinweise auf Drogenschmuggel zusammenlaufen. Verdächtige Fahrtrouten von Schiffen werden analysiert. Außerdem nimmt Hamburg stärker "Hafen-Innentäter" in den Fokus, also Hafenbeschäftigte, die sich von Kartellen durch Bestechung oder Erpressung zur Mitarbeit bringen lassen. Von einer Gefahr in Behörden und Sicherheitsorganen war keine Rede - vielleicht noch nicht.