Bewegung gegen Rechts Demowelle erfasst Kleinstädte: Morddrohung und CDU-Zoff


Eine Demonstration im brandenburgischen Beelitz vor rund einem Jahr. Vielerorts bildeten sich Bündnisse im Zuge der Correctiv-Recherche zum Potsdamer Treffen.
(Foto: picture alliance / ZB)
Nicht nur in den Metropolen, auch in Hunderten Dörfern und kleineren Städten gehen Menschen für den Erhalt der Brandmauer auf die Straße. Ein Experte erkennt eine bundesweite Bewegung, Organisatoren vor Ort erzählen von eingespielten Strukturen - und Unterstellungen auf Facebook.
Eine Demowelle hat Deutschland erfasst. Der Februarkälte zum Trotz gingen am vergangenen Wochenende erneut rund 200.000 Menschen auf die Straße. In Metropolen wie Berlin, wo am Sonntag Prominente wie Herbert Grönemeyer und Bela B. auftraten, aber auch in Torgau, Hechingen oder auf Wangerooge. Insgesamt demonstrierten laut einer Auswertung der taz allein an diesem Wochenende Menschen in über 200 Dörfern und Städten gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck, gegen die AfD und für Demokratie.
Es sind politisch aufgeladene Zeiten: Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten und die anstehende Bundestagswahl treibe die Leute ohnehin um, sagt der Politikwissenschaftler Johannes Kiess von der Universität Leipzig im Gespräch mit ntv.de. Die gemeinsame Abstimmung von Union und AfD im Bundestag Ende Januar sei dann ein "Kristallisationspunkt" gewesen.
Tatsächlich war etwa die Großdemo in Berlin am ersten Februarsonntag schon länger geplant, doch dass nach Angaben der Veranstalter 250.000 Menschen kamen, lag offenkundig am Abstimmungsverhalten der Union. Im Zentrum stand plötzlich der Erhalt der "Brandmauer". Die Initiative "Demokrateam", die auf ihrer Webseite eine Übersicht über vergangene und anstehende Demos gegen rechts gibt, zählt bundesweit mehr als 1,3 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmer seit dem 25. Januar - unter Berufung auf die eher konservativ geschätzten Polizeizahlen.
Strukturen sind etabliert
Dass nach der Bundestags-Abstimmung auch abseits der Großstädte innerhalb kurzer Zeit für die "Brandmauer" mobilisiert werden konnte, habe mit den Protesten im Zuge der Correctiv-Recherche Anfang 2024 zu tun, erklärt Kiess. Das Treffen in Potsdam, bei dem über eine sogenannte "Remigration" gesprochen worden war, hatte eine erste Welle von Massendemonstrationen ausgelöst. Bei vielen Menschen trat ein Politisierungseffekt ein, Bündnisse bekamen Zulauf oder wurden neu gegründet. "Dann ist es wieder etwas eingeschlafen, aber die Kontakte und Strukturen bestehen", sagt Kiess.
So erzählt es auch Tanja von der "Initiative Boizenburg gegen Rechts". Die Kleinstadt mit rund 11.000 Einwohnern liegt in Mecklenburg, unweit der Grenze zu Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Nach der Correctiv-Recherche habe es auch in Boizenburg eine Demonstration gegeben. "Aber weil es nie eine gezielte Organisation gab, haben wir uns im Frühjahr gegründet. Das schien uns ein günstiger Moment, da viele Leute motiviert waren", sagt sie ntv.de.
Die erste Aktion sei ein Fünf-Kilometer-Lauf gewesen, Anlass für die erste richtige Demo gab dann ein AfD-Bürgerdialog im Mai, den sie gemeinsam mit anderen Initiativen geplant hatten. Seither organisieren Tanja und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter sporadisch Veranstaltungen, Seminare und Infostände. Mittlerweile sei man in der Region gut vernetzt. "Das ging richtig flott. Alle freuen sich, wenn irgendwo eine neue Initiative gegründet wird. Wir unterstützen uns gegenseitig, helfen uns mit Plakaten aus und besuchen die Kundgebungen der anderen."
Für Politikwissenschaftler Kiess haben die Demos gegen Rechts inzwischen einen Bewegungscharakter. Die Akteure kämen aus weltanschaulich diversen Richtungen: Gewerkschaften, Kirchen, Umwelt- und Frauenbewegung, dazu die zahlreichen lokalen Bündnisse. "Wenn viele verschiedene Akteure miteinander vernetzt sind und gemeinsam auftreten, spricht man von einer Bewegung", schlussfolgert der Experte.
Beschimpfungen am Wahlstand
Diese Bewegung ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Polarisierung, die auch Ingo Harnischmacher vom "Lindlarer Bündnis für Demokratie" zu spüren bekommt. Die Stimmung in der 30 Kilometer östlich von Köln gelegenen Gemeinde habe sich verändert, sagt Harnischmacher, der sich auch bei den Grünen engagiert. "Situationen, in denen man an den Wahlständen beschimpft oder aggressiv angegangen wird, haben sich im Vergleich zu den vorherigen Wahlen ungefähr verdreifacht. Neulich sagte uns jemand ins Gesicht, man solle uns alle aufhängen."
Gegründet wurde das Bündnis in Lindlar ebenfalls kurz nach der Enthüllung des Potsdamer Treffens. Spontan habe man eine Demonstration auf die Beine gestellt, etwas Werbung in den sozialen Medien gemacht und Redner eingeladen: Kirchenvertreter, den Bürgermeister und engagierte Bürger. "Ende Januar stand ich dann auf dem Marktplatz und da waren 700 Leute um mich herum", erzählt Harnischmacher ntv.de. Nach seiner Aussage war das die größte Demonstration, die die 22.000-Einwohner-Gemeinde je gesehen hat.
Daraufhin sei eine breite Unterstützung für das Bündnis herangewachsen. Bei der nächsten Veranstaltung stellten lokale Unternehmen Bühne und Equipment zur Verfügung, viele Vereine und die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP im Gemeinderat wurden mit ins Boot geholt. "Nur die CDU haben wir trotz vieler Zugeständnisse nicht zur Mitarbeit bewegen können." Zwar sei der Protest auch in Lindlar im Jahresverlauf abgeebbt, "aber die Strukturen sind da", sagt Harnischmacher. "Nach der Bundestags-Abstimmung haben wir innerhalb von eineinhalb Wochen eine Mahnwache auf dem Lindlarer Marktplatz organisiert - zum Erhalt der Brandmauer." Zwischen 100 und 150 Menschen seien dagewesen.
Unmut nach Facebook-Post
Das Bündnis erhalte viel Zuspruch, doch vereinzelt mischten sich auch negative Stimmen darunter, erzählt Harnischmacher. Warum man nicht gegen Messerstecher protestiere, hätte der eine oder andere auf Facebook geschrieben. "Eine Person hat unseren Aufruf zur Brandmauer-Demo in einer Facebook-Gruppe geteilt, mit den Worten: 'Das Lindlarer Bündnis gegen die CDU ruft zu einer Demonstration gegen die CDU auf'." Eine böswillige Unterstellung, sagt Harnischmacher, das "Lindlarer Bündnis für Demokratie" richte sich nicht gegen die CDU. Im Gegenteil: Eine Zusammenarbeit sei ausdrücklich erwünscht.
Doch in Lindlar, wo der Bürgermeister seit 1947 ein Christdemokrat ist, habe sich das Gerücht hartnäckig gehalten. "Ich war einen ganzen Tag beschäftigt, mit den Vereinen, die uns unterstützen, zu telefonieren und die Wogen zu glätten", sagt Harnischmacher. Einige Vereine hätten dennoch ihren Austritt aus dem Bündnis erklärt. Gegen den Urheber des Facebook-Posts hat Harnischmacher Anzeige erstattet - wegen Verleumdung.
Wie erfolgreich und langlebig die bundesweite Protestbewegung ist, werde man erst mit einigen Jahren Abstand bewerten können, sagt Experte Kiess. Druck auf die Politik entstehe aber bereits jetzt. "Für SPD, Grüne und Linke ist das ein Zeichen, nicht allem zustimmen zu müssen, was die CDU vorschlägt." Auch Liberale und Christdemokraten, die Entscheidungen ihrer Parteien nicht mittragen wollen, könnten bestärkt werden.
"Für die CDU selbst ist es ein Alarmzeichen, wenn die Kluft zur demokratischen Zivilgesellschaft größer wird, weil man da langfristig ein wichtiges Milieu verliert", sagt Kiess. Zugleich bestehe die Gefahr, dass die Verbindung zwischen der CDU und anderen demokratischen Parteien verloren geht. "Dann wird die strategische Option AfD relevanter."
Quelle: ntv.de