
Kann eine zweite Infektionswelle verhindert werden?
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Deutschland scheint die Ansteckungszahlen in den Griff zu bekommen. Immer mehr Lockerungen kommen. Mit ihnen wächst allerdings die Sorge vor neuen Infektionen. Wissenschaftler rechnen sogar mit einer zweiten Welle. Aber wie wahrscheinlich ist die?
Noch vor einer Woche rechnete das Robert-Koch-Institut (RKI) in der Corona-Krise fest mit weiteren Ansteckungswellen. "Das ist eine Pandemie. Und bei einer Pandemie wird dieses Virus so lange Krankheiten hervorrufen, bis 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sind", bekräftigte RKI-Präsident Lothar Wieler. Es werde "mit großer Sicherheit" eine zweite Welle geben, dessen sei sich die Mehrheit der Wissenschaftler sicher. Viele gingen sogar von einer dritten Welle aus, so Wieler. Mittlerweile äußert sich das RKI jedoch zurückhaltender: Eine weitere Welle könne nun doch verhindert werden, "wenn wir uns alle vernünftig verhalten und Infektionen vermeiden."
Sind die neuen Infektionsherde in China die ersten Signale, dass eine weitere Coronavirus-Welle auf uns zurollt?
Das lässt sich so genau nicht sagen. In der Millionenstadt Jilin waren am vergangenen Wochenende 21 Fälle bekannt geworden. Die Stadtverwaltung nennt die Lage "sehr ernst". Auch in Wuhan wurden neue Infektionen gemeldet. Allerdings sind lokale Ausbrüche etwas, "das immer wieder vorkommen kann - auch bei uns in Europa", sagt Epidemiologe und Katastrophenschutz-Experte Timo Ulrichs bei ntv.
Auch bei einer stabilen Lage, wie zurzeit in Deutschland, könnten immer wieder kleine Infektionsherde aufflammen, da man nicht alle Menschen testen kann. Das bedeute noch keine weitere Welle, sollte aber dennoch aufmerksam beobachtet werden, ergänzt der Experte. "Durch die Lockerungen nimmt das Risiko solcher lokalen Ausbrüche zu, wie man aktuell in einigen deutschen Wurstfabriken und Pflegeheimen sehen kann."
Ab wann spricht man von einer zweiten Welle?
Eine klare Definition oder konkrete Zahlenangaben dafür gibt es nicht. Bei einer erneuten Infektionswelle "müssten wir nicht nur in einem Land, sondern in mehreren Regionen auf der Welt eine Trendumkehr sehen", erklärt der Wissenschaftler. Das bedeutet, dass die Neuinfektionen kontinuierlich zunehmen müssten - nicht nur in Europa, sondern auch beispielsweise in Ostasien. Das zeigen die Zahlen bislang nicht. Solange es nur kleinere Ausbrüche gebe, "ist die Lage einigermaßen unter Kontrolle".
Ganze Weltregionen stehen jedoch erst vor der ersten Welle oder durchlaufen sie gerade. Vor allem in Gegenden, wo nicht so viel getestet wird, ist die Ausbreitung des Virus noch nicht abgeschlossen. "Wenn wir sagen, die zweite Welle käme jetzt sofort, ist das sicherlich noch verfrüht, weil uns dafür bislang die Daten fehlen", so Ulrichs.
Warum rechnen Wissenschaftler überhaupt mit einer zweiten Welle?
In der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, dass Pandemien, aber auch Epidemien wellenartig verlaufen. Das muss aber nicht unbedingt immer der Fall sein. Wie eine Pandemie verläuft, hängt stark von der Dynamik des Erregers ab. Bei der Spanischen Grippe unmittelbar im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gab es nach dem Rückgang der Fallzahlen noch einmal eine Wiederausbreitung. Das Virus hatte sich leicht verändert und konnte so wieder mehr Menschen infizieren. Daher gab es in der zweiten Welle sehr viele Todesopfer zu beklagen.
Kann eine Mutation des Virus eine zweite Welle auslösen?
Nachdem zeitweise davon ausgegangen wurde, dass das Virus bereits Mutationen gebildet hatte, nehmen Wissenschaftler inzwischen wieder an, dass es nur eine Virusvariante gibt. Eine Mutation des Coronavirus sei im Moment eher unwahrscheinlich, meint auch Ulrichs. "Wir können vorerst davon ausgehen, dass das Coronavirus, wie wir es jetzt haben, einigermaßen stabil bleibt." In der Regel mutiert ein Virus nur, wenn es einen Grund dafür hat: Biologen sprechen dann von einem Selektionsdruck. Das Coronavirus habe momentan keine Veranlassung, sich stark zu verändern, so Ulrichs. "Dieser Selektionsdruck ist nicht gegeben, weil wir das Virus gar nicht ursächlich oder mit einem Medikament behandeln können. Solche Mittel üben Druck auf die Virusreplikation aus." Aber: Das Coronavirus könnte auch per Zufall mutieren, wie zum Beispiel, als es vom Tier auf den Menschen übergegangen ist. Dann könnte eine neue Variante auftauchen. "Dieses Risiko ist immer gegeben", sagt Ulrichs.
Was begünstigt den Ausbruch einer zweiten Welle?
Es gibt mehrere Faktoren. So könnte die Jahreszeit eine Rolle spielen. "Einige Studien besagen, dass die Sommermonate eher hemmend auf die Virusausbreitung wirken, weil die Menschen sich eher draußen aufhalten", sagt auch Ulrichs. UV-Licht und höhere Temperaturen können Viren abtöten. Im Herbst sei das kühle Wetter dann wieder günstiger für Viren und auch Menschen anfälliger für Krankheiten. Allerdings kommen neuere Studien zu dem Schluss, dass die Ausbreitung des Virus in keinem Zusammenhang mit Breitengrad oder den Temperaturen einer Region steht. Die deutlich wichtigeren Faktoren sind demnach das Verhalten der Menschen und die Maßnahmen, die gegen das Virus ergriffen worden sind: Abstand halten, Hände waschen, Masken tragen. Wenn diese Lockerungen zu weit getrieben würden, könnte es zu einer Trendumkehr kommen, warnt Wissenschaftler Ulrichs. Das mache eine zweite Viruswelle deutlich wahrscheinlicher.
Wann könnte eine zweite Welle kommen?
Charité-Virologe Christian Drosten warnte bereits vor zwei Wochen vor einer neuen Welle, die Deutschland mit größerer Wucht treffen könnte als bisher. "Wenn die zweite Welle kommt, kommt sie relativ zeitnah. Womöglich noch bevor wir einen guten Impfstoff haben", sagt auch Ulrichs. Im Herbst wäre seiner Meinung nach ein neuer Ausbruch denkbar. "Dann halten sich die Menschen wieder vermehrt in geschlossenen Räumen auf, da es draußen kälter wird." Zudem bestünde die Gefahr, dass viele der ganzen Maßnahmen müde geworden und dadurch nicht mehr vorsichtig seien.
Lässt sich eine zweite Welle verhindern?
Wahrscheinlich schon, allerdings müssen dafür die Lockerungen immer wieder angepasst werden. Wichtig ist auch, die neuen Hygienemaßnahmen konsequent beizubehalten, also weiter Abstand zu halten, regelmäßig die Hände zu waschen, in öffentlichen Räumen Mund und Nase zu bedecken und bei Erkrankungen zu Hause zu bleiben. Sicher ist für die Epidemiologen trotzdem, dass auch diese Pandemie vorübergehen wird. "Hoffentlich frühzeitig und mithilfe eines Impfstoffes", sagt Ulrichs.
Quelle: ntv.de