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"Opfer, aber wovon?" Serbien soll Schulmassaker nicht vergessen

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Zehn Menschen tötete der 13-Jährige.

Zehn Menschen tötete der 13-Jährige.

(Foto: AP)

Am 3. Mai 2023 tötet in Belgrad ein 13-Jähriger in einer Schule zehn Menschen, neun davon Kinder. Seitdem ist die Trauer ständige Begleiterin der Familien.

Ninela Radicevic kann es immer noch nicht fassen, dass ihre Tochter niemals zurückkommen wird. Die elfjährige Ana Bozovic war am Morgen des 3. Mai vergangenen Jahres just in ihrer Schule im Zentrum von Belgrad eingetroffen, als ein anderer Schüler, damals 13 Jahre alt, das Feuer eröffnete und auf jeden schoss, der ihm im Flur im Weg war. Ana, zwei weitere Mädchen und ein Schulwachmann waren auf der Stelle tot.

Der Schütze setzte dann seinen Amoklauf in einem Klassenzimmer fort. Insgesamt kamen zehn Menschen ums Leben. Acht Kinder und der Wachmann wurden in der Schule getötet, ein neuntes Kind starb später im Krankenhaus. Sechs weitere Verletzte überlebten.

Das Blutbad schockierte Serbien. Zwar waren Gewaltverbrechen nichts Unbekanntes für dieses Balkanland, aber Amokläufe hatte es zuvor selten gegeben und noch nie in einer Schule. Und nur einen Tag später folgte ein weiterer Schock. Da erschoss ein 20-Jähriger in zwei Dörfern bei Belgrad neun Menschen und verletzte zwölf weitere, zumeist junge Leute.

Für Radicevic blieb die Zeit an jenem Morgen stehen, an dem sie ihre Tochter verlor. Und sie glaubt, dass das ganze Land nach einem solchen unfassbaren Verbrechen zum Stillstand hätte kommen müssen. Aber, so sagte sie der Nachrichtenagentur AP: "Jeder beeilte sich zu vergessen." Und das nicht nur in diesem Fall, klagte sie. "Wir vergessen tragische Ereignisse zu schnell. Diese Angewohnheit, alles unter den Teppich zu kehren, muss enden." Leute, fügt sie hinzu, "hätten die Bedeutung und die Tragödie jenes Augenblicks begreifen müssen".

Ein leeres Kinderzimmer

Die trauernde Mutter äußerte sich in der Wohnung der Familie in Belgrad. Fotos auf einem Regal neben ihr zeigten ein Kind mit großen Augen und langen braunen Haaren, das Sport und Tanzen liebte. Anas Zimmer ist unberührt geblieben. Eine Weltkarte hängt an der Wand, und ihre Stofftiere stehen noch auf dem Bett. Eine großes gerahmtes Fotoposter, das die Kleine im Judo-Outfit bei einem Kopfstand zeigt, dominiert den Raum. Auch der Schreibtisch ist genauso, wie Ana ihn an jenem Morgen zurückließ.

Radicevic, eine 49-jährige klinische Forscherin, steht an der Spitze einer Kampagne, die Erinnerung an alle in der Belgrader Vladislav-Ribnikar-Schule getöteten Kinder und die Opfer des Amoklaufes am Tag danach wachzuhalten, damit so etwas nie wieder geschieht. "Alles, was wir (Eltern) getan haben, ist dafür zu kämpfen, dass der 3. Mai nicht vergessen ist, um dem Verlust unserer Kinder etwas Sinn zu geben", sagt Radicevic, die auch einen 17-jährigen Sohn hat. "Sie sind die Opfer, aber wovon?"

Viele in Serbien haben sich dieselbe Frage vor dem Jahrestag des Blutbades am heutigen Freitag gestellt, der mit einer ganztägigen Gedenkzeremonie nahe der Schule begangen werden sollte - einschließlich Kunstinstallationen, Diskussionen mit Experten und Videofilmen über die Opfer. Das Programm wird "Erwachen" genannt - offenbar ein Aufruf zur Selbstbesinnung, dazu, sich selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen - in einer Nation, die ihre Vergangenheit, ihre Rolle in mehreren Kriegen in den 1990er Jahren und die Kultur der Gewalt seitdem noch nicht verarbeitet hat.

Die Eltern der getöteten Kinder waren stark in die Vorbereitungen auf die Zeremonie involviert. Sie haben dafür gekämpft, dass die Schule geschlossen und in ein Gedenkzentrum verwandelt wird, haben Protestaktionen und Gedenkveranstaltungen organisiert und öffentlich über ihr Leid gesprochen, um das allgemeine Bewusstsein über die Tragweite des Geschehenen zu fördern.

"Die Tatsache, dass Kinder nur eine Woche später zu derselben Schule zurückgekehrt sind (...), in dieselben Klassen, sagt dir, dass der Staat schnell ein Gefühl der Normalität schaffen wollte", so Radicevic. "Wir hätten anhalten müssen, um nachdenken, herauszufinden, was wir falsch gemacht haben, um zu sagen: Okay, wir haben Fehler gemacht, lass uns das akzeptieren und sehen, wie wir von morgen an weitermachen, wie diese Gesellschaft besser wird."

Chance für "Läuterung" versäumt

Serbiens populistische Regierung war nach den Blutbädern gegen Schusswaffen vorgegangen, sammelte ungefähr 80.000 samt Munition ein. Vom Staat unterstützte spezielle Hilfsteams boten psychologische Beratung an. Polizisten wurden zum Schutz von Serbiens Schulen entsandt. Beide Schützen wurden gefasst. Der damals 13-Jährige war wegen seines Alters rechtlich nicht strafmündig, aber die Eltern des Jungen mussten sich vor Gericht verantworten, wegen des Vorwurfs, ihrem minderjährigen Sohn das Schießen beigebracht und Waffen daheim nicht sicher unter Verschluss gehalten zu haben. Der Prozess gegen den Amokläufer in den Dörfern bei Belgrad und seinen Vater ist erst für Mai angesetzt.

Der Schock und der Zorn über die Bluttaten im vergangenen Jahr lösten monatelange Straßenproteste aus, die Demonstranten forderten bessere Sicherheitsmaßnahmen, ein Verbot von Hassreden und anderem gewalttätigen Content in Medien sowie den Rücktritt mehrerer Minister. Aber ein Jahr später sagen Kritiker, dass sich nicht viel geändert habe.

Radicevic meint, dass Serbien eine "letzte Chance für eine Läuterung" versäumt habe. "Die meisten Menschen waren schlicht erleichtert, dass es nicht ihr eigenes Kind war, und seien dann zur Tagesordnung übergegangen, sagt sie. "Eine Woche später sind andere Kinder gekommen, um zu sehen, wo es (das Blutbad) geschehen ist. Es tut mir leid, aber ich glaube, das ist nicht normal."

Quelle: ntv.de, Marko Drobnjakovic und Jovana Gec, AP

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