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Zu Tode ausgebeutet Bei Italiens unsichtbaren Erntehelfern

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Snatam Singh wurde nur 31 Jahre alt. Er träumte von einem besseren Leben in Italien.

Snatam Singh wurde nur 31 Jahre alt. Er träumte von einem besseren Leben in Italien.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Ein indischer Arbeiter stirbt auf einem Feld in Italien, ihm wird bei der Arbeit der Arm abgerissen. Der Fall sorgt für Entsetzen. Doch er ist nur einer von 400.000, die in der italienischen Landwirtschaft unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Gewerkschaften versuchen, ihnen zu helfen.

Es ist 4 Uhr morgens, draußen ist es noch stockdunkel, die Brigate del Lavoro sind trotzdem schon unterwegs. Diese Arbeitsbrigaden setzen sich aus Mitgliedern der in ganz Italien aktiven Straßeneinheiten der Gewerkschaft Flai Cgil zusammen.

Es ist nicht immer leicht, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen.

Es ist nicht immer leicht, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen.

(Foto: Andrea Affaticati)

Auf mehrere Minivans verteilt, geht es von Latina ins Agro Pontino, ein südöstlich von Rom gelegenes Agrargebiet, das zusammen mit der Po-Ebene zu den wichtigsten Anbaugebieten Italiens gehört. An diesem Morgen sind 30 Leute unterwegs, um an die Erntehelfer Leuchtwesten, Wasser und einen Flyer mit den Kontakten der lokalen Gewerkschaft zu verteilen.

Mit abgerissenem Arm ausgeladen

Bis vor ein paar Wochen kannten nur die wenigsten im Ausland die Pontinische Ebene. Ein tragischer Vorfall, der für internationale Schlagzeilen sorgte, hat das geändert. Bei der Betätigung einer Landwirtschaftsmaschine wurde dem 31-jährigen indischen Erntehelfer Satnam Singh der Arm abgerissen. Er hätte sofort ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Doch weil der Mann keine Aufenthaltsgenehmigung hatte und schwarz arbeitete, verfrachtete ihn der Arbeitgeber samt abgetrenntem Arm und Singhs völlig verzweifelter Frau auf einen Transporter und lud sie kurz danach einfach vor deren Wohnung ab.

Der Arbeitgeber, Antonello Lovato, ist 38 Jahre alt. Er sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft und versucht sein Verhalten damit zu erklären, dass er in Panik geraten war, weil Singh und seine Frau Illegale waren. Doch Zeugen zufolge war Lovato immerhin klar genug im Kopf gewesen, um dem Verletzten und der Frau die Handys abzunehmen, damit sie keine Hilfe holen konnten. Es war ein anderer Arbeiter, der den Rettungswagen rief. Singh starb ein paar Tage später.

Singh war vor drei Jahren mit seiner Frau Soi in Latina gestrandet. Für einen Hungerlohn von fünf Euro die Stunde soll er bis zu zehn Stunden am Tag gearbeitet haben. Einen Teil des Lohns musste er den Schleppern geben, denen er noch Geld schuldete.

400.000 sollen es sein

Die Caporalato-Verbrechen, womit sklavenähnliche Arbeits- und Lebensbedingungen gemeint sind, zählen in Italien zu den endemischen Plagen. Allein in der Landwirtschaft sollen Schätzungen des Instituts Placido Rizzotto zufolge etwa 400.000 Menschen darunter leiden. Wenn man bedenkt, dass die offizielle Zahl der Arbeiter in der Landwirtschaft 2022 in Italien bei knapp über einer Million lag, liefern die Ausgebeuteten ein zusätzliches Drittel Arbeitskraft, die Italien - aber nicht nur - frisches Obst und Gemüse garantieren.

"Wir haben das beste Gesetz der Welt gegen diese Art von Ausbeutung", sagt Antonio del Brocco, der Vorsitzende der regionalen Zweigstelle Flai Cgil Roma Lazio. "Nur was hilft das, wenn in den Betrieben keine Kontrollen durchgeführt werden?" Premierministerin Giorgia Meloni hat nach Singhs Tod die Einstellung von zusätzlichen 1600 Inspektoren versprochen. Diese werden aber erst im Oktober kommen.

Was den Betrieb Lovato betrifft, so nutzte nicht nur der Junior die Erntehelfer aus, sondern auch der Vater, gegen den deswegen seit fünf Jahren ein Prozess läuft. Lovato Senior kommentierte Singhs verheerenden Unfall mit folgenden Worten: "Mein Sohn hatte ihm gesagt, er solle sich von der Maschine fernhalten. Jetzt hat er uns alle in Schwierigkeiten gebracht."

Wenn eine Melone nur 90 Cent das Kilo kostet

Zurück zur Arbeiterbrigade. Es sind fast nur Inder, einige mit der traditionellen Kopfbedeckung der Sikh, die schon kurz vor 5 Uhr mit ihren Rädern auf dem Weg zur Arbeit sind. Im Agro Pontino ist Italiens größte indische Gemeinschaft zu Hause.

Viele halten nicht zuletzt wegen der Leuchtwesten kurz an. Auf die Frage, wie lange er schon hier lebe, antwortet einer der Arbeiter: "Zehn Jahre". Es gibt aber einige, die noch viel länger hier sind, wie auch ihr mittlerweile weiß gewordener Bart verrät. Die Alteingesessenen haben eine Aufenthaltsgenehmigung und leben mit Frau und Kindern, manchmal auch schon Enkelkindern hier. Die Neulinge kämpfen und mühen sich stattdessen oft für nur für ein paar Euro die Stunde von früh bis spät ab, um irgendwann und irgendwie selbst dieses Stück Papier zu bekommen.

Befragt man sie über die Arbeitsbedingungen, so antworten fast alle, sie hätten einen regulären Vertrag und würden nach diesem arbeiten. Ein Gewerkschafter der Arbeitsbrigaden vermutet jedoch, dass ihnen ihre Arbeitgeber nach dem Tod des Kollegen mit Entlassung gedroht haben, sollten sie etwas anderes sagen.

Unerklärlich erscheint einem von außen gesehen, warum die Menschen, die hier leben, diese Arbeiter, die man sehr wohl auf den Feldern schuften sieht, trotzdem übersehen. Del Brocco weist darauf hin, dass zu Italiens mittlerweile chronischen Problemen die zu niedrigen Gehälter zählen. "Die Familien sehen sich gezwungen, Produkte, die gerade im Sonderangebot sind, zu kaufen." Anders gesagt, die Frage, wer wie viel entlang der Produktionskette verdient, wenn eine Melone nur 90 Cent das Kilo kostet, können sich viele nicht leisten.

Vertrauen und selbstbewusste Arbeiterschaft

Die Arbeit auf den Feldern ist hart und schlecht bezahlt.

Die Arbeit auf den Feldern ist hart und schlecht bezahlt.

(Foto: Andrea Affaticati)

Es ist eine schwierige Lage, in der vor allem die Gewerkschaft Flai Cgil einzugreifen versucht. Die Brigate del Lavoro decken jedes Jahr je eine Provinz in drei verschiedenen Regionen ab. Dass dieses Mal eine Aktion gerade dort stattfand, wo wenige Tage davor der Erntehelfer Singh tödlich verunglückte, war reiner Zufall.

Neben den Aktionen sind es vor allem die regelmäßigen Besuche bei den Erntehelfern, der Austausch über ernste und manchmal auch belanglose Themen, das gemeinsame Organisieren von Festen, die beim Aufbau von Vertrauen helfen. Und Vertrauen spielt auch im Fall Singh eine wichtige Rolle. So hatten nach dem Unfall einige Erntearbeiter sofort Laura Hardeep Kaur, die Generalsekretärin von Flai Cgil Latina, benachrichtigt und sie um Hilfe gebeten. Kaur hat indische Wurzeln und spricht außerdem die Sprache.

Soi Singh, die Frau des getöteten Arbeiters, wurde sofort von der Gewerkschaft in Latina betreut. Man kümmerte sich um die umgehende Ausstellung einer außerordentlichen und erneuerbaren Aufenthaltsgenehmigung. Damit kann sie dem Prozess gegen Lovato beiwohnen. Außerdem besorgte man ihr einen Platz in einem Frauenhaus. Auch eine Spendenaktion wurde organisiert. Ein Teil des Geldes diente dazu, ihre Schwester aus Indien einzufliegen. "Soi ist sehr mitgenommen und verzweifelt", erzählt Kaur, die ihr nicht nur sprachlich zur Seite steht. "Das hindert sie aber nicht, sehr klar zu erzählen, was genau geschehen ist. Sie ist nämlich fest entschlossen, Gerechtigkeit für ihren Mann zu bekommen."

Quelle: ntv.de

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