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Angriff auf die Zeugen Jehovas So lief der Amoklauf von Hamburg ab

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Die eigentliche Tat spielt sich innerhalb von nur 20 Minuten ab: Acht Menschen sterben am Donnerstagabend in einem Hamburger Gemeindehaus der Zeugen Jehovas. Die Ermittler rekonstruieren am Tag danach das Geschehen des Amoklaufs. Ein Minutenprotokoll.

19.00 Uhr - Die Gemeinde versammelt sich zu ihrem regulären Gottesdienst am Donnerstag im "Königreichssaal" an der Deelböge im Stadtteil Alsterdorf. Das Gebäude liegt zwischen einer Baustelle und Gewerbebetrieben. Laut einem Sprecher der Zeugen Jehovas nehmen 36 Personen vor Ort an der Veranstaltung teil, weitere 25 sind über einen Livestream zugeschaltet. Nach späteren Angaben des Einsatzleiters Matthias Tresp waren rund 50 Gäste in dem Versammlungsgebäude anwesend. Der Tatort ist fünf Autominuten vom Polizeipräsidium Hamburg entfernt.

20.45 Uhr - Der Gottesdienst endet. Die Teilnehmer führen noch Gespräche. Der Amoklauf beginnt: Eine Besucherin verlässt das Gebäude, geht zu ihrem Auto auf dem Parkplatz. Sie wird von dem Täter, der später als der Deutsche Philipp F. identifiziert wird, angegriffen, kann aber leicht verletzt flüchten und sich von einem anderen Ort aus bei der Polizei melden. Die Beamten stellen später zehn Einschüsse an ihrem Auto fest. Der Täter, der früher Mitglied der Gemeinde war, geht zu einem Fenster und feuert durch die Scheibe auf die noch im Saal Anwesenden, wie Einsatzleiter Tresp bei einer Pressekonferenz am heutigen Freitag berichtet. Dann dringt der Mann "unter permanentem Schusswaffengebrauch" in das Gebäude ein.

21.04 Uhr - Bei der Feuerwehr und der Polizei gehen 47 Notrufe ein. Die dramatische Lage sei sofort deutlich geworden, sagt Tresp. Die Anrufer melden Schüsse in dem Gemeindehaus. In einigen Fällen ist es so, dass die anrufende Person urplötzlich verstummt. Tresp vermutet, dass sie von einem Schuss getroffen wurde. Bei den Todesopfern handelt es sich um vier Männer, zwei Frauen und einen weiblichen Fötus im Alter von 28 Wochen. Die Männer und Frauen seien zwischen 33 und 60 Jahre alt, sagt der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuzweit. "Alle Todesopfer sind deutscher Staatsangehörigkeit und starben jeweils durch Schusseinwirkung." Darüber hinaus seien sechs Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 23 und 46 Jahren verletzt worden, mindestens vier von ihnen lebensbedrohlich, "teils mit multiplen Schusswunden", so Radszuzweit. Sechs der Verletzten seien deutsche Staatsangehörige, je eine Frau ist ugandischer beziehungsweise ukrainischer Staatsangehörigkeit.

21.09 Uhr - Die auf Amoklagen geschulten Beamten der Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE) sind vor Ort. Es war ein glücklicher Zufall, so Tresp, dass sie zum Tatzeitpunkt ganz in der Nähe waren. Dank ihrer Ausrüstung und Ausbildung erkennen sie sofort, dass sie nicht abwarten sollten. Die Tür des Gemeindehauses ist verschlossen, die Beamten öffnen sie von innen nach einem Schuss in die Scheibe. Die Beamten nehmen einen Mann wahr, der vor ihnen ins Obergeschoss flüchtet. Sie betreten - "taktisch", wie Tresp sagt - weitere Räume des Gebäudes und sehen mehrere Verletzte und Tote am Boden liegen. Dann folgen die Einsatzkräfte dem Mann und hören einen Schuss. Sie finden den Täter mit einer Faustfeuerwaffe und neun leergeschossenen Magazinen - mit insgesamt 135 Patronen. Am Körper trägt er noch zwei gefüllte Magazine, in einem Rucksack hat er 20 weitere mit jeweils 15 Schuss, wie der Leiter der Staatsanwaltschaft, Ralf Peter Anders sagt.

21.11 Uhr - Die Polizei löst einen Großeinsatz aus, an dem sich fast 953 Beamte beteiligen. Nach Eintreffen der ersten Beamten können rund 20 Personen unverletzt aus dem Gebäude gerettet und Rettungskräften die Möglichkeit gegeben werden, sich schnell um Menschen mit Schussverletzungen zu kümmern. "Das sofortige Handeln hat vielen Menschen das Leben gerettet", sagt Tresp. So sei es auch gelungen, den Täter schnell von weiteren möglichen Opfern zu trennen.

22.32 Uhr - Es ist allerdings zunächst unklar, ob ein oder mehrere bewaffnete Täter flüchtig sind. Zwar deuten Zeugenaussagen darauf hin, dass es nur einen Täter gibt, schildert Tresp. Doch dann melden sich Zeugen mit Videoaufnahmen von der daneben liegenden Tankstelle und geben der Polizei den Hinweis, dass es womöglich noch einen zweiten Täter gibt. Dadurch werden die polizeilichen Maßnahmen "erheblich dynamischer", sagt Tresp. Das Gebäude wird gesichert, sodass keine Gefahr für die Rettungskräfte und Menschen vor Ort besteht. Die Polizei untersucht, ob es weitere Gebäude, die zu den Zeugen Jehovas gehören, im Stadtgebiet gibt und ob weitere Veranstaltungen laufen. Dem ist nicht so, ein sofortiger Objektschutz ist also nicht nötig. Die Polizei fahndet großflächig im Stadtgebiet. An diesen Maßnahmen ist unter anderem ein Polizeihubschrauber beteiligt. Zudem werden zur Warnung der Bevölkerung auch Alarme über "Cell Broadcast" sowie die Warn-Apps "KATWARN" und "NINA" ausgelöst. "Meiden Sie den Gefahrenbereich", werden die Empfänger aufgefordert.

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Nach einigen Stunden gibt es schließlich Gewissheit - dank einer weiteren Analyse des Videos von der Tankstelle und der Vernehmung unverletzter Zeugen: Es gab nur einen Täter. So war auf dem Video lediglich der Schatten des Täters zu sehen. Zuvor hätte man aufgrund der schwierigen Lichtverhältnisse davon ausgehen können, dass zwei Personen an der rechten Seite des Gebäudes lang laufen.

00.30 Uhr - Beamte durchsuchen die Wohnung von Philipp F. in Altona. Sie stellen nach Angaben von Anders 15 volle Magazine, jeweils 15 Patronen und vier Schachteln mit weiteren 200 Patronen sicher, zudem Laptops und Smartphones. "Nach jetzigen Erkenntnissen gibt es keinen weiteren Täter, die Gefahrenlage ist insoweit im Griff, und es gibt auch keine Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund", sagt Anders.

Quelle: ntv.de, fzö/dpa

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