Experte zu Anklage in München "Straftaten waren ein Hauptzweck der Letzten Generation"
24.03.2025, 19:37 Uhr Artikel anhören
Zu den in München Beschuldigten gehört auch Carla Hinrichs, die ehemalige Sprecherin und Mitgründerin der Letzten Generation.
(Foto: picture alliance / PIC ONE)
Vor zwei Jahren machten die Münchner Ermittler mit einer großangelegten Razzia gegen Mitglieder der Letzten Generation Schlagzeilen - nun liegt das Ergebnis der zeitintensiven Untersuchungen vor: Die Generalstaatsanwaltschaft München erhebt Anklage gegen fünf Mitglieder der mittlerweile umbenannten Gruppe. Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuches. Dass es die Letzte Generation - zumindest auch - auf die Begehung von Straftaten angelegt hat, dürfte im Hinblick auf etliche Verurteilungen wegen Nötigung und Sachbeschädigung kaum einer bezweifeln. Aber wiegen die Delikte wirklich so schwer wie jene der Mafia oder rechtsextremistischer Gruppen, die üblicherweise unter den Paragrafen fallen? Der Strafrechtler Milan Kuhli von der Universität Hamburg sprach sich vor zwei Jahren klar gegen eine Strafbarkeit der Aktivisten im Hinblick auf eine kriminelle Vereinigung aus. Im Hinblick auf die Entwicklung der Letzten Generation fällt seine Einordnung heute anders aus.
ntv.de: Herr Kuhli, vor zwei Jahren, als die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München begannen, schrieben Sie gemeinsam mit einer Kollegin den Artikel "Warum die Letzte Generation (noch) keine kriminelle Vereinigung ist". Wie sehen Sie das heute?
Wir haben eine Strafbarkeit der Gruppenmitglieder wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung damals vor allem mit Blick auf den Wortlaut des Paragrafen 129 Strafgesetzbuches abgelehnt. Allerdings scheiden sich bei der Frage um die Einordnung der Letzten Generation die Geister. Dass sich ein Gericht nun einmal mit der Frage beschäftigt, ist im Hinblick auf die Rechtssicherheit grundsätzlich gut. Bei Frage der Strafbarkeit nach Paragraf 129 wird das Gericht aber auch jetzt zu berücksichtigen haben, dass es Aspekte gibt, die man im Hinblick auf die Letzte Generation kritisch sehen muss.
Zum Beispiel die Frage, ob die Straftaten, die die Letzte Generation begeht, schwerwiegend genug sind, um die Gruppe zu einer kriminellen Vereinigung zu machen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte einmal, dass die Vereinigung ein "Klima der Angst" verbreiten müsse.
Grundsätzlich heißt es in Paragraf 129 nur, dass die Gruppe Straftaten begehen muss, für die eine Höchststrafe von mindestens zwei Jahren Haft vorgesehen ist. Das ist bei der Letzten Generation ja schon durch die Straßenblockaden gegeben - auf Nötigung steht eine Höchststrafe von drei Jahren. Mehr Voraussetzungen zur Frage der Erheblichkeit enthält der Wortlaut des Paragrafen 129 grundsätzlich nicht. Allerdings spricht tatsächlich viel dafür, über eine weitere Erheblichkeitsschwelle nachzudenken. So beginnt die Strafbarkeit bei Paragraf 129 im Gegensatz zu anderen Delikten sehr früh. Wäre die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung, könnte etwa schon das Sammeln von Spenden zugunsten der Gruppe strafbar sein. Nun stellt sich die Frage, wie man die "Erheblichkeit" bestimmt. Ich halte das Kriterium "Klima der Angst" zum Beispiel für problematisch.
Warum?
Weil es sehr schwammig ist. Die Frage, was nun ein Klima der Angst verbreitet und was nicht, bietet sehr viel Spielraum. Das sehe ich gerade im Hinblick auf die notwendige Rechtssicherheit kritisch. Eindeutiger wäre es etwa, auf die verletzten Rechtsgüter abzustellen, um zu bestimmen, ob eine Straftat erheblich ist. Man könnte sagen, je schwerwiegender ein Rechtsgut ist, desto erheblicher das Delikt. Richtet sich die Straftat zum Beispiel gegen Leib und Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung, kann man wohl allemal von Erheblichkeit sprechen.
Wie erheblich sind die Straftaten der Letzten Generation unter diesem Kriterium?
Bei Straßenblockaden, also Nötigungen oder kleineren Eigentumsverletzungen kann man durchaus anzweifeln, ob sie für die Annahme einer kriminellen Vereinigung ausreichen. Soweit allerdings Flughäfen oder Öl- und Gas-Betriebe lahmgelegt werden, wiegen diese Delikte weitaus schwerer und müssen auch berücksichtigt werden. Ich halte die Erheblichkeit der Straftaten nicht für ausgeschlossen.
Paragraf 129 macht jedoch selbst eine Ausnahme: Wenn die Begehung der Straftaten für die Gruppe nur "von untergeordneter Bedeutung" ist, handelt es sich nicht um eine kriminelle Vereinigung. Ist die Letzte Generation, die mit ihren Aktionen zu mehr Klimaschutz bewegen will, damit aus dem Schneider?
So eindeutig ist das nicht. Dieser Ausschluss trifft auf Vereinigungen zu, die an sich einen legalen Zweck verfolgen, deren Tätigkeiten im Randbereich aber auch strafbar sein können. Man nimmt für den weit übergeordneten Zweck sozusagen kleinere Delikte, die nebenbei geschehen, in Kauf. Das heißt jedoch nicht, dass ein legitimer Zweck alle Mittel heiligt. Andernfalls könnte man die schlimmsten Delikte begehen und dies am Ende mit beispielsweise Klimaschutz rechtfertigen. Das Gericht wird sich also die tatsächliche Entwicklung der Letzten Generation anschauen, soweit diese im Zeitpunkt der Gründung absehbar war. Und da könnte man sagen, dass Straftaten ein Hauptzweck der Gruppe waren. Sie waren wahrscheinlich nicht der endgültige Zweck, aber ein solch wesentlicher Zwischenschritt, dass man möglicherweise nicht mehr von "untergeordneter Bedeutung" sprechen kann.
Muss es nicht trotzdem einen Unterschied machen, ob sich eine Gruppe die eigenen Taschen füllen will, wie etwa die Mafia, oder für ein Ziel wie Klimaschutz kämpft?
Das unterschiedliche Ziel muss auf jeden Fall Beachtung finden. Die große Frage ist allerdings, an welchem Punkt. Möglich wäre auch, dass es die Strafzumessung beeinflusst. Der Strafrahmen des Paragrafen 129 ist weit - er reicht im Fall der Gründung oder mitgliedschaftlichen Beteiligung von einer Geldstrafe bis hin zu einer fünfjährigen Haftstrafe. Sollte es also zu einem Verfahren und einer Verurteilung kommen, könnten die Richter den durchaus legitimen Zweck der Aktivisten strafmildernd berücksichtigen. Im Gegensatz dazu gibt es allerdings Stimmen, die schon den Tatbestand als nicht erfüllt ansehen, weil das Fernziel der Letzten Generation legitim ist. Das halte ich, wie gesagt, rechtlich für problematisch. Ein spannender Punkt wird daher auch sein, an welchem Punkt der Prüfung das Landgericht München auf den Klimaschutz zu sprechen kommt.
Welche Rolle wird es für das Landgericht München spielen, dass sich die Letzte Generation mittlerweile umbenannt hat und auf bisherige Aktionen wie Straßenblockaden und Farbattacken verzichten will?
Für die Strafbarkeit spielt das erst einmal keine Rolle. Denn ob sich die Gruppe in Zukunft möglicherweise ändert oder gar auflöst, ändert ja nichts an Straftaten, die möglicherweise begangen wurden. Um die geht es ja, auf diese stützen sich die Ermittlungen. Allerdings kann auch diese Frage bei der Strafzumessung relevant sein. Wenn es die Gruppe in ihrer möglicherweise strafrechtlich relevanten Form künftig nicht mehr gibt, kann das ebenso strafmildernd sein, wie wenn sich ein Mitglied losgesagt hat. All dies muss Teil der Untersuchung des Gerichts sein. Allerdings ist auch klar, dass eine bloße Umbenennung dafür nicht ausreicht.
Die Aktivisten selbst werten die Anklage als "Angriff auf zivilgesellschaftliches Engagement" und sprechen von einer Attacke auf die Demokratie. Gibt es verfassungsrechtliche Bedenken bei dem Schritt der Generalstaatsanwaltschaft München?
Das ist ein harter Vorwurf. Aus Sicht der Aktivisten versteht man diese Reaktion vielleicht, doch ich teile sie nicht. Paragraf 129 ist bei all seiner Problematik ein Tatbestand, mit dem der Gesetzgeber ein legitimes Ziel verfolgt. Zudem scheint eine Strafbarkeit der Aktivisten, wie besprochen, nicht gänzlich ausgeschlossen. Eine Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft ist damit kein Verstoß gegen den Rechtsstaat - zumal wir die Anklagegründe, also die Ermittlungsergebnisse, noch nicht kennen. Aber natürlich muss das Gericht bei seiner Bewertung der Anklage und bei seiner Abwägung einen möglichen Eingriff in die Meinungsfreiheit beachten. Auch müssen die Richter die angeklagten Aktivisten und ihre Beiträge zur Gruppe einzeln begutachten. Wie besprochen, muss das Ziel der Aktivisten eine Rolle spielen, falls es zu einer Verurteilung kommt. All dies sind rechtsstaatliche Aspekte, die es zu beachten gilt. Zudem hätte eine Entscheidung des Gerichts in München keine Bindungswirkung für andere Fälle - das heißt, ein anderes Gericht könnte hinsichtlich einer anderen Tat zu einem abweichenden Urteil gelangen. Kurzum: Im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit mag es in diesem Fall Bauchschmerzen geben - die liegen aber nicht in der Anklage durch die Generalstaatsanwaltschaft München.
Wo liegen sie dann?
In der Schwammigkeit des Paragrafen. Der Bestimmtheitsgrundsatz besagt eigentlich, dass Straftatbestände möglichst klar definieren sollen, was strafbar ist und was eben nicht. Nur so können die Bürgerinnen und Bürger ihr Verhalten danach ausrichten. Schon anhand unseres Gespräches sehen wir jedoch, wie viele Punkte unsicher sind: Umfasst Paragraf 129 nur schwerwiegende Delikte? Wie umfassend gilt die Ausnahme, sprich, wann sind Straftaten nur "von untergeordneter Bedeutung"? Ist eine Strafbarkeit per se ausgeschlossen, wenn das Fernziel einer Gruppe legitim ist? All das ist nicht ganz klar. Hier wäre der Gesetzgeber in der Pflicht, nachzujustieren.
Mit Milan Kuhli sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de