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Gummiparagraf im Strafrecht Geht der Staat bei der Letzten Generation zu weit?

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Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen sieben Mitglieder der Letzten Generation. Darunter ist auch Carla Hinrichs, eine Sprecherin der Gruppe.

Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen sieben Mitglieder der Letzten Generation. Darunter ist auch Carla Hinrichs, eine Sprecherin der Gruppe.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen die Letzte Generation wegen des Verdachts auf eine kriminelle Vereinigung. Damit fährt sie das ganz große Geschütz des Staates auf - und stellt die Aktivisten auf eine Stufe mit Drogenbossen und Schlägertrupps.

Die Mafiabande 'Ndrangheta, die rechtsextreme Schlägertruppe "Sturm 34" oder auch die linksextreme Gruppierung um die jüngst verurteilte Lina E. aus Leipzig: Auf der Liste krimineller Vereinigungen in Deutschland stehen bisher Gruppen wie diese. Künftig könnten auch die Klimaaktivisten der Letzten Generation dazu gehören - zumindest, wenn es nach der Staatsanwaltschaft München geht.

Die Behörde verkündete bereits einen entsprechenden Anfangsverdacht. Kurz darauf stürmten LKA-Beamte bundesweit die Wohnungen einiger Gruppenmitglieder. Die vermummten Polizisten kamen früh am Morgen, die Aktivistin Carla Hinrichs berichtet von einer gezogenen Waffe direkt vor ihrem Bett. Diese Maßnahmen sind notwendig, vielleicht lebenswichtig - bei Ermittlungen gegen Menschenhändler, Gewalttäter oder Drogenbosse. Doch gehören die Klimaaktivisten der Letzten Generation tatsächlich in diese Reihe?

Ginge es nach einigen wutentbrannten Autofahrern, Politikern oder etwa Polizeigewerkschaftschef Rainer Wendt, gäbe es daran keine Zweifel. Anhänger der Letzten Generation halten hingegen schon die Idee für eine Farce. Das Gesetz, Paragraf 129 des Strafgesetzbuches, setzt objektivere Maßstäbe an: Die letzte Generation müsste eine Vereinigung sein, "deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist".

Mitglieder stünden mit einem Fuß im Gefängnis

Daran bestehen auf den ersten Blick nach knapp eineinhalb Jahren bundesweiter Straßenblockaden kaum Zweifel. Zwar geht es der Gruppe in erster Linie um Klimaschutz. Um dieses Ziel zu erreichen, begehen die Aktivisten jedoch regelmäßig Straftaten: Nötigungen, Sachbeschädigungen, Hausfriedensbruch und auch wegen Plänen über Angriffe auf Pipelines wird ermittelt.

Längst haben Gerichte die Strafbarkeit einzelner Aktivisten bestätigt. Die Gruppe selbst betont zudem immer wieder, dass sie "rechtliche Konsequenzen" bewusst in Kauf nehme, um auf ihre Ziele aufmerksam zu machen. Nach einem ersten Blick ins Strafgesetzbuch ist der Anfangsverdacht der Staatsanwaltschaft München somit nachvollziehbar, eine Verurteilung scheint zumindest nicht ausgeschlossen.

Damit könnten sich alle Mitglieder der Letzten Generation strafbar machen. Ohne dass der Staat ihnen einzelne Aktionen nachweisen müsste, würden ihnen bis zu fünf Jahren Haft drohen. Auch die Unterstützung der Gruppe, etwa in Form von Spenden, wäre verboten. Üblicherweise knüpft das Gesetz die Strafbarkeit an eine Rechtsgutverletzung - strafbar macht sich etwa, wer jemanden tötet, ihn betrügt oder bestiehlt. Im Fall von Paragraf 129 beginnt die Kriminalität viel eher. Gerade aus diesem Grund spreche viel dafür, den Tatbestand eng auszulegen und nur bei erheblichen Straftaten anzuwenden, sagt der Strafrechtler Milan Kuhli von der Universität Hamburg im Gespräch mit ntv.de.

Mit Paragraf 129 fährt der Staat das ganz große Geschütz auf

Bei Drogenkartellen oder Organisationen, die Schutzgeld erpressen, liegt diese Erheblichkeit auf der Hand. Oft geht es um Delikte wie Mord, Körperverletzung oder Menschenhandel, also um schwerste Verbrechen. Die Aktivisten der Letzten Generation hingegen sind für ihre Klebeaktionen bekannt. Sie verursachen Staus, indem sie Autofahrer - ohne körperliche Gewalt - zum Anhalten zwingen. Das ist für viele Autofahrer lästig und bündelt enorm viele Kräfte bei der Polizei. Strafrechtlich handelt es sich allerdings lediglich um leichte Kriminalität, um Vergehen. Verhandelt werden die Taten der Klimaaktivisten stets vor dem Amtsgericht, in den meisten Fällen gibt es eine Geldstrafe. Reicht das tatsächlich, um - ähnlich wie Schwerverbrecher - als "erheblich" zu gelten?

Ein guter Indikator sei die Überlegung, ob die Aktivitäten der Gruppe ein gewisses Klima der Angst in der Gesellschaft schüren, sagt Kuhli. Das, so der Jurist, "sehe ich bei der Letzten Generation derzeit nicht." Die Erheblichkeitsschwelle sei - zumindest bisher - nicht überschritten. "Es gibt einfach einen Unterschied zwischen einer Vereinigung, die die Bevölkerung terrorisiert, Drogen verkauft und Schutzgeld erpresst und einer, die einfach nur Teile der Bevölkerung nervt." Ähnlich sah es der Bundesgerichtshof bereits vor über 20 Jahren. Damals entschied er, eine Gruppe sei nur dann eine kriminelle Vereinigung, wenn sie eine "erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit" darstelle.

Schließlich gibt es einen weiteren Grund für eine gewisse Zurückhaltung in der Anwendung von Paragraf 129. Denn "der Anfangsverdacht eröffnet den Ermittlungsbehörden zahlreiche Befugnisse", erklärt Kuhli. Nicht umsonst wird der Tatbestand als Schnüffelparagraf bezeichnet. Die Ermittler können etwa Telefone abhören, Chats mitlesen, Wohnungen verwanzen, observieren, V-Leute einsetzen - oder eben Razzien durchführen. Für die Verdächtigen bedeuten die möglichen Maßnahmen tiefe Eingriffe in ihre Rechte. Kurzum: Mit Paragraf 129 fährt der Staat das ganz große Geschütz auf.

Schwammige Formulierungen im Gesetz

Schon im Sinne der Verhältnismäßigkeit sollte das große Geschütz nur bei Schwerkriminellen zum Einsatz kommen, heißt es im Streit um die Einordnung der Letzten Generation oft. Ganz so einfach ist das jedoch nicht: Der Gesetzgeber hat den Tatbestand 2017 nachgeschärft. Wo vorher allgemein von Straftaten die Rede war, geht es nun um jede Tat, die im Höchstmaß mit mindestens zwei Jahren Haft bedroht ist. Damit genügt - ganz ausdrücklich - schon leichte Form von Kriminalität, um als kriminelle Vereinigung eingestuft zu werden. Zum Beispiel Nötigung.

Auf diesen Wortlaut pochen nun jene, die den Verdacht der Münchner Ermittler gegen die Letzte Generation für gerechtfertigt halten. Danach erfülle die Gruppe alle Punkte des Tatbestands, weitere Kriterien gebe es nicht. Allerdings müsse man auch die Ausnahme beachten, wendet Kuhli ein. Die Konstruktion der kriminellen Vereinigung bricht nämlich dann zusammen, wenn die Begehung von Straftaten für die Gruppe nur "von untergeordneter Bedeutung" ist. Laut dem Strafrechtler ist dies das Schlupfloch für die Klimaaktivisten. Denn "es spricht viel dafür, die Erheblichkeitsgrenze in diese Ausnahme reinzulesen".

Die Staatsanwaltschaft München hat das nicht getan. Es gehe nicht um Unterstellungen, betont Kuhli. Allerdings bestehe die Gefahr, Paragraf 129 für präventive Ermittlungen gegen lästige Gruppen oder gar zur Abschreckung zu missbrauchen. "Da sehe ich ein Problem, denn dafür ist das Strafrecht nicht gemacht."

"Fall gehört in den Bundestag"

Möglich wird das durch die schwammige Formulierung im Gesetz. Der Tatbestand zur Bildung krimineller Vereinigungen ist eine Art Gummiparagraf - er räumt dem Staat zwar enorme Befugnisse ein, ist jedoch offen für verschiedenste Auslegungen. Ein Eingreifen der Behörden wird somit kaum eingeschränkt - auch, wenn sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit aufdrängt.

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Im Fall der Letzten Generation schafft das Unsicherheiten. "Jemand, der sich in der Gruppe engagieren oder vielleicht nur spenden möchte, steht nun vor dem Risiko, in die Strafbarkeit zu rutschen", erklärt Kuhli. Natürlich könne der Gesetzgeber nicht jeden Einzelfall regeln. "Aber dieser Fall gehört in den Bundestag." Das Plenum sollte über den Paragrafen debattieren und ihn konkretisieren, fordert der Strafrechtler.

Danach sieht es bisher jedoch nicht aus. Vor allem nicht, bevor es für die sieben Mitglieder der Letzten Generation, gegen die in Bayern ermittelt wird, ernst wird. "Ich gehe davon aus, dass es irgendwann zu einer Anklage kommt", sagt Kuhli. Dann liegt es an den Richtern, zu entscheiden, ob die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung ist - und damit auf einer Liste mit der Mafia, Neonazis und Schlägertruppen steht.

Quelle: ntv.de

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