"Hart aber fair" zu Corona Viele Kinder leiden noch heute unter den Folgen
19.11.2024, 04:55 Uhr Artikel anhören
Die Pandemie ist vorbei. Doch viele Menschen spüren die psychischen und physischen Folgen immer noch.
(Foto: WDR/Dirk Borm)
Die Corona-Pandemie ist Geschichte. Doch bei der Aufarbeitung hakt es noch. Bei "Hart aber fair" im Ersten diskutieren die Gäste vor allem über die Probleme von Kindern und Jugendlichen nach Corona.
"Ich habe den Eindruck, dass wir in den letzten ein oder zwei Jahren viel gelernt haben", sagt Medizinethikerin Alena Buyx. Sie war während der Corona-Pandemie Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. "Aber was mir ein bisschen Sorgen macht - und da ist auch das Thema Long Covid relevant: Dass wir noch nicht richtig geheilt haben."
Was die Wissenschaftlerin meint, sind die Folgen der Corona-Pandemie. Die ist nun schon seit gut zwei Jahren Geschichte. Doch das Virus gibt es immer noch. Immer noch erkranken Menschen daran, immer noch empfehlen Ärzte Auffrischungsimpfungen für Menschen, die zu den besonders gefährdeten Gruppen gehören. Doch was haben wir wirklich aus der Pandemie gelernt, deren Aufarbeitung sehr schleppend voranschreitet? Das ist das Thema am Montagabend bei "Hart aber fair" in der ARD. Und aufzuarbeiten gibt es offenbar noch einiges. Sowohl im medizinischen als auch im sozialen Bereich.
Deutschland sei besser durch die Corona-Pandemie gekommen als viele andere Länder, sagt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. "Wir sind vorsichtig gewesen. Wären wir nicht vorsichtig gewesen, wären noch mehr Menschen gestorben und hätten noch mehr Menschen Long Covid. Das wäre unverantwortlich und ein Fehler gewesen." Dennoch räumt Lauterbach ein: "Es war längst nicht alles richtig." Die langen Schulschließungen zum Beispiel.
Psychische Probleme von Kindern
"Die Folgen merken wir noch heute", sagt die Psychologin und Mitgründerin des Beratungsangebots "Krisenchat", Melanie Eckert. "Gerade für Kinder war das eine sehr belastende Zeit." Kinder und Jugendliche brauchten soziale Kontakte, Freiheit, aber auch Strukturen wie die Schule. "Und da haben wir nicht genau genug hingeschaut", sagt Eckert. Die Folgen: Stark gestiegene psychische Belastungen bei Jugendlichen.
Hier hilft Eckert mit ihrem "Krisenchat". Dort können Kinder und Jugendliche über ihre Probleme berichten - und bekommen Hilfe. "Wir werden überrannt mit Anfragen", sagt Eckert, die zusammen mit ihren ehrenamtlichen Kollegen in den letzten Jahren 160.000 Beratungsgespräche mit Kindern geführt hat. "Sie kommen mit depressiven Symptomen, Selbstmordgedanken, wir haben Fälle von Kindeswohlgefährdung, familiäre Identitätsthemen, da ist alles dabei. Und für uns ist wichtig, dass alles dabei sein kann." Ihre Kollegen sind 24 Stunden im Einsatz. Sie wollen, dass Kinder wissen, dass da jemand ist, der ihnen zuhört. "Das haben wir besonders in der Corona-Krise vergessen und nicht richtig im Blick gehabt", sagt Eckert.
Der Krisenchat ist eine Erstanlaufstelle. Die Mitarbeiter dort sind leicht zu erreichen, und sie kommunizieren mit Kindern so, wie die es wollen: Im Chat, nicht per Telefon. Was Melanie Eckert und ihre Kollegen tun, kommt an und hilft. "Ein fantastisches Projekt, wirklich großartig", lobt Alena Buyx.
Die Gesundheit der Kinder
Doch Kinder und Jugendliche leiden nicht nur unter psychischen Problemen, die die Corona-Pandemie verursacht hat. Viel schlimmer ist es, wenn Kinder krank geworden sind. Oft unheilbar. Zum Beispiel, wenn sie nach einer Corona-Infektion unter Long Covid leiden. "Wir haben noch keine Heilung für Long Covid zu diesem Zeitpunkt", sagt Lauterbach. "Das betrifft sehr viele Kinder, sehr viele jüngere Erwachsene. Diese Leute haben zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt keine Perspektive. Das ist sehr traurig."
Noch schlimmer ist es, wenn zu Long Covid noch eine zweite Erkrankung dazukommt. So wie bei Kalea Lierck. Ihre Mutter Elena und die 15-Jährige leben in Dresden. Kalea hat eine Krankheit, von der laut einer Studie der Charité in Berlin die Hälfte aller Menschen betroffen sein könnten, die an Long Covid leiden: ME/CFS. Die Myalgische Enzephalomyelitis, die oft als "chronisches Fatigue-Syndrom" bezeichnet wird, entsteht häufig durch eine Virusinfektion. Studien belegen: Seit der Corona-Pandemie ist auch ME/CFS häufiger geworden.
Kalea war ein lebhaftes Kind. Sie trieb viel Sport, war gerne mit anderen Kindern zusammen. 2019 treten die ersten Probleme auf, erzählt ihre Mutter. Nach einer Infektion mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber. Plötzlich hat Kalea Knieschmerzen, ihre Achillessehne entzündet sich. Dann kommt im Winter 2020 eine Corona-Infektion dazu. Kalea wird immer schwächer. "Mittlerweile hat sie die Diagnose Long Covid und ME/CFS", sagt ihre Mutter. Kalea hat eine Entzündung im Gehirn, kann seit einem Jahr nicht mehr laufen. Sie liegt nur noch im Bett. Wenn sie etwas braucht, kann sie niemanden rufen. Sie ist zu schwach dazu. Sie hat einen Klingelknopf am Bett.
Zur Schule gehen kann die 15-Jährige schon lange nicht mehr. Ab und zu schafft sie es, ein Buch zu lesen. Auf dem Handy. Wenn es ihr richtig gut gehe, schreibe sie kleine Geschichten oder bastele Schmuck, erzählt sie flüsternd. Laut sprechen kann sie nicht. Auch dazu ist sie zu schwach. Auch zum Stehen.
Doch Kalea glaubt fest daran, dass sie eines Tages wieder gesund wird. Und sie hat einen Traum: "Ich will die Welt umreisen. Oder zumindest mach Afrika. Mit meiner Mama."
Elena Lierck sagt: "Das Schlimmste für mich ist zu sehen, wie alle anderen weiterleben und ihre Freunde treffen. Es ist dieses Lebendig-Begraben-Sein, das man für dieses Kind mit spürt." Auch Elena Lierck hofft, dass Kalea wieder gesund wird. "Doch die Hoffnung schwindet von Tag zu Tag. Klar, die Forschungen werden immer besser. Aber das sage mal jemandem, der seit fünf Jahren im Bett liegt und immer mehr vom Leben verpasst."
Etwa 90.000 Kinder leben in Deutschland mit der Diagnose ME/CFS. Das Problem: Die Krankheit ist schwer zu diagnostizieren. "Es gibt keinen Biomarker dafür", erklärt Virologe Klaus Stöhr. "Es gibt eine Kette von klinischen Kriterien, die erfüllt werden müssen. Aber das ist sehr schwammig. Und das Spektrum von Symptomen ist sehr groß."
Elena Lierck will über die Krankheit informieren, Wissen in die Gesellschaft bringen. Darum findet jetzt der "Aufklärungs-Winter" statt. Und sie fordert eine bessere Ausbildung von Medizinern. Dazu müssten mehr Forschungsgelder zur Verfügung gestellt werden.
Die seien sicher, verspricht Lauterbach. Auch für die nächsten Monate. Denn für Lauterbach ist klar: "Wir brauchen eine gründliche Aufarbeitung."
Quelle: ntv.de