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Wer brachte Knochen in den Wald? Was den Fall Émile so rätselhaft macht

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Französische Gendarmen sichern das kleine Dorf Le Haut-Vernet in den französischen Südalpen. Die Suche nach Spuren geht auch drei Tage nach dem Fund der Knochen weiter.

Französische Gendarmen sichern das kleine Dorf Le Haut-Vernet in den französischen Südalpen. Die Suche nach Spuren geht auch drei Tage nach dem Fund der Knochen weiter.

(Foto: picture alliance/dpa/AFP)

Seit dem 8. Juli 2023 ist der kleine Émile wie vom Erdboden verschluckt. Mit dem Fund seines Schädelknochens ist nun klar: Der Zweijährige ist tot. Damit hat das Bangen ein Ende - Gewissheit gibt es jedoch nicht. Die Überreste stellen die Ermittler vor allem vor eine Frage: Wie kamen sie in den Wald?

Knapp neun Monate lang bangt Frankreich um das Schicksal von "petit Émile". Noch vor wenigen Wochen betonte die Staatsanwaltschaft ihre Hoffnung, den kleinen Jungen, der vergangenen Sommer im französischen Le Vernet verschwand, lebend zu finden. Seit dem Osterwochenende ist klar, dass es einen solchen Ausgang des Falles, ein Aufatmen für die Familie des damals Zweijährigen, nicht geben wird. Denn "Émile ist tot", diese Nachricht ging am vergangenen Sonntag um die Welt. Die ständige Angst, das stete Bangen der Angehörigen mag damit ein Ende finden. Gewissheit über das Schicksal des kleinen Émile gibt es allerdings noch nicht. Im Gegenteil.

Denn sicher ist in diesem Fall bisher kaum etwas. Lediglich die Stunden vor dem Verschwinden des Kindes am 8. Juli lassen sich genau rekonstruieren: Émile war zu Besuch im Ferienhaus seiner Großeltern mütterlicherseits. Die Eltern haben den Zweijährigen in das kleine Bergdorf gebracht, sie selbst wollten später nachkommen. Am Nachmittag war er mit vielen Verwandten zusammen. Als Émile für einen kurzen Augenblick aus den Augen gelassen wurde, verschwand er aus dem Haus.

Bevor sich seine Spur gegen 17.15 Uhr vollends verliert, wurde der kleine Junge ein letztes Mal von zwei Nachbarn gesehen. In seinem gelben T-Shirt, der kurzen Hose und seinen Wanderschuhen lief er demnach alleine eine Gasse in der Nähe des Hauses seiner Großeltern entlang. Alarm schlugen die späteren Zeugen nicht, laut örtlichen Medien war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder in dem Dorf alleine unterwegs waren. Mit dem Notruf der Familie um 18 Uhr begann anschließend die großangelegte Suche nach dem Zweijährigen.

"Eine kollektive Tragödie"

Knapp neun Monate ließen die Ermittler kaum etwas unversucht. Jeder Ansatz wurde verfolgt, "keine These wird ausgeschlossen", wie Staatsanwalt Rémy Avon mehrfach betonte. Und Thesen gab es prompt nach dem Verschwinden von Émile etliche: Diskutiert wurden etwa Angriffe durch Greifvögel oder Wölfe. Möglich schien zwischenzeitlich, dass sich der Junge verlaufen hatte oder versehentlich in eine Erntemaschine geraten war. Die Behörden setzten Wärmebildkameras und Hubschrauber ein, rekonstruierten den Tag des Verschwindens jüngst sogar detailgetreu mit der Familie des Jungen. Nichts von alledem führte zu einer echten Spur, gar zu einem Durchbruch. Die Möglichkeiten, den Fall aufzuklären, schienen langsam zu schwinden.

Bis zum Fund einer Wanderin am vergangenen Sonntag. In den französischen Südalpen, unweit von Le Vernet, stieß sie auf einen Kinderschädel und Zähne. Die Knochen wurden für einen Gentest nach Lyon gebracht, schnell hatten Familie und Ermittler die traurige Gewissheit: Es sind Émiles Überreste.

Die Nachricht vom Tod des Jungen verbreitete sich rasend schnell, es handele sich um "eine kollektive Tragödie", titelte etwa die französische Zeitung "Le Parisien". Dass das öffentliche Interesse an dem Fall derart groß ist, dürfte neben dem fatalen Schicksal des Jungen und seiner Familie vor allem an den mysteriösen Umständen liegen: Ein kleines Kind, zu Gast bei seinen Großeltern, wird plötzlich vom Erdboden verschluckt. Ort des Geschehens ist die Idylle der französischen Alpen, ein 125-Seelen-Örtchen, in dem jeder jeden zu kennen scheint. Und schließlich zahlreiche Theorien, von denen nach rund neun Monaten Ermittlungsarbeit kaum eine ausgeschlossen werden kann.

Übersahen Einsatzkräfte die Leiche im Wald?

Mit dem Fund der Knochen keimt nun die Hoffnung, Licht ins Dunkel der Spekulationen zu bringen. Allerdings, so viel ist mittlerweile klar, stellen sowohl der Fundort als auch der Zustand der Überreste die Ermittler vor neue Herausforderungen. So reicht der gefundene Schädelknochen möglicherweise nicht aus, um die Todesumstände zu klären, wie eine Sprecherin der Gendarmerie gegenüber "Franceinfo" erklärte. Das Ziel der Ermittler sei es daher in erster Linie, "weitere Elemente, Knochen oder Kleidung" zu finden. Dafür sind der Gendarmerie zufolge auch am dritten Tag nach dem Knochenfund noch rund 100 Einsatzkräfte rund um die Fundstelle nahe Le Vernet vor Ort. Soweit der Öffentlichkeit bekannt, konnten sie jedoch bisher keine weiteren Hinweise finden.

Neben den fehlenden Teilen des Skelettes stellt der Fundort des Schädelknochens das größte Fragezeichen für die Ermittler dar. Dieser liegt gerade einmal einen Kilometer Luftlinie entfernt vom Haus der Großeltern. Gefunden wurden die Knochen "auf einem Weg zwischen der Kirche und der Kapelle", wie François Balique, der Bürgermeister von Le Vernet, gegenüber der Zeitung "Le Figaro" sagte. Das Rätselhafte hierbei: Genau diese Gegend war jedoch schon mehrmals Teil der großen Suchaktion. Insgesamt inspizierten die Ermittler und das Militär im Laufe der Zeit demnach 96 Hektar Felder und Wälder. Zudem sei der Fundort gerade im Sommer hoch frequentiert - Jäger und Waldarbeiter kämen hier ständig vorbei.

Ist es vor diesem Hintergrund möglich, dass die Überreste des Jungen bereits seit seinem Verschwinden an jener Stelle lagen und sie lediglich übersehen wurden? Die Sprecherin der Gendarmerie sieht hierfür eine "sehr geringe Chance". Eine weitere mit den Ermittlungen vertraute Quelle schloss die Möglichkeit gegenüber "Le Figaro" allerdings aus. "Wir konnten nicht daran vorbeigehen", wird sie von der Zeitung zitiert. Eine weitere, nicht namentlich genannte Quelle, schließt gegenüber der Zeitung auch aus, dass die Leiche von Émile zunächst vergraben und nun durch einen Erdrutsch, durch Regen oder Schnee wieder freigelegt wurde.

Der Zustand der Überreste

Treffen diese Aussagen zu, würde ein Unfall, bei dem sich Émile freiwillig an den späteren Fundort begeben hat, ausscheiden. Für die Bewohner von Le Vernet kommt dies laut der französischen Zeitung "Le Parisien" ohnehin nicht in Betracht. "Émile wäre nie allein dorthin gegangen, wo man ihn gefunden hat", ist demnach die einhellige Meinung im Dorf.

Damit rückt die These in den Fokus, dass die Überreste des Jungen nachträglich an den Fundort gebracht wurden. Möglicherweise wurden sie von Tieren dorthin verschleppt - oder von einem Menschen dort abgelegt. Erklären würde das auch den Zustand der Knochen. So sei es besonders auffällig, dass lediglich der Schädel, nicht das gesamte Skelett des Jungen, gefunden wurde, erklärte der Pathologe und Gerichtsmediziner François Paraf gegenüber "Le Figaro". "Neun Monate reichen nicht aus, um den Körper auf den Zustand eines Skeletts zu reduzieren." Die Verwesung würde im Durchschnitt ein bis zwei Jahre dauern, ohne dass Menschen oder Tiere eingreifen. Paraf geht daher davon aus, dass Émile "Ziel eines menschlichen Eingriffs war oder von Tieren zerfleischt wurde".

Ein Angriff durch Wölfe oder Adler war bereits kurz nach dem Verschwinden des Jungen in Betracht gezogen worden. So ist für das Waldgebiet bei Le Vernet etwa eine "permanente Rudelpräsenz" von Wölfen vermerkt. Die genaue Untersuchung der gefundenen Knochen kann laut Paraf Aufschluss darüber geben, ob Émile von einem Tier angegriffen wurde. Anhand möglicher Bisswunden könnte das anthropologische Team auch nachweisen, ob sich möglicherweise kleine Tiere wie Ratten an der Leiche des Jungen zu schaffen gemacht haben oder ob es sich um größere Tiere wie Wölfe oder Füchse handelt.

Ein Verbrechen?

Bürgermeister Balique hält eine Straftat hingegen für wahrscheinlicher. Schloss er eine Entführung im vergangenen Sommer noch weitgehend aus, "weil es in Vernet sehr friedlich sei", sieht dies nun anders aus. "Ich komme nicht umhin, zu glauben, dass ein Erwachsener in diese Angelegenheit verwickelt ist", sagte er zu "Le Figaro". Ein Ermittler, den die Zeitung nicht beim Namen nennt, geht überdies davon aus, dass "eine Person die Überreste von Émile zurückgebracht hat, und zwar möglicherweise erst vor kurzem." Das, so die zitierte Person, "wäre in höchstem Maße beunruhigend".

Denn eine heiße Spur zu einem Tatverdächtigen gibt es, soweit bekannt, bisher nicht. Nach dem Fund der Knochen berichteten französische Medien etwa über die Wanderin, die die Überreste des kleinen Jungen gefunden hatte. Statt die Gendarmerie zu rufen und am Fundort zu warten, hatte sie die Knochen demnach in ihrem Auto zur nächstgelegenen Station transportiert, was nicht den Vorgaben der Ermittler entspricht. Laut "Le Figaro" wurde ihr Tagesablauf kontrolliert, festgenommen wurde sie jedoch nicht. Auch gibt es keine Hinweise auf auffälliges Verhalten der Frau.

Erneut in den Fokus rückte auch Philippe V., der Großvater von Émile. Indizien wegen des Verschwindens seines Enkels gibt es gegen den 58-Jährigen nicht. Allerdings ist er laut französischen Medien in einen Strafprozess verwickelt, in dem es um Misshandlung von Schülern an einem Internat geht, an dem V. in den 1990er-Jahren tätig war. Einer der Kläger wirft V. vor, damals "monumentale Ohrfeigen" verteilt zu haben. Bereits vor sechs Jahren gab V. zu, den ein oder anderen Klaps verteilt zu haben.

"Es bleibt ein Rätsel"

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Laut "Le Parisien" wissen die Ermittler im Fall Émile seit langem von den Vorwürfen gegen den Großvater. Eine Verbindung zum Verschwinden des Zweijährigen sehen sie jedoch nicht, wie "TF1" berichtet. Den Berichten zufolge gab V. an, mit Émile vor dem Haus gewesen zu sein und das Auto beladen zu haben, als der kleine Junge seiner Aufmerksamkeit entglitt und verschwand. Mit der Rekonstruktion wollten die Ermittler auch überprüfen, ob es bei dieser Version möglicherweise Ungereimtheiten gibt. Die Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit bisher nicht mitgeteilt, zudem dürfte sich die Konzentration der Ermittler nun auf die Überreste konzentrieren, die zwei Tage nach der Aktion gefunden wurden.

Mit dem Fund der Knochen ändert sich die Stoßrichtung der Ermittlungen im Fall Émile. Gewissheit bringen sie jedoch allenfalls bedingt - für die Ermittler gilt es nun, neue offene Fragen zu beantworten. All das wird noch eine lange Zeit in Anspruch nehmen, kündigte Staatsanwalt Jean-Luc Blachon an. Es wird also noch dauern, bis die Familie von Émile, die Ermittler und die Öffentlichkeit wissen, was mit dem Zweijährigen geschehen ist. Bürgermeister Balique fasste es so zusammen: "Das Rätsel verschiebt sich, aber noch bleibt es ein Rätsel."

Quelle: ntv.de

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