Von Erntemaschine erfasst? Was dem vermissten Émile passiert sein könnte
18.07.2023, 19:18 Uhr Artikel anhören
Émile wurde zuletzt von zwei Dorfbewohnern gesehen - er war alleine in einer Gasse in der Nähe des Hauses seiner Großeltern unterwegs.
Frankreich bangt um Émile. Vor zehn Tagen verschwindet der Zweijährige während eines Urlaubs bei seinen Großeltern in Südfrankreich. Eine riesige Suchaktion bleibt erfolglos. Wurde der kleine Junge entführt? War es ein Unfall? Die Ermittler verfolgen verschiedene Theorien.
Noch immer fehlt vom kleinen Émile jede Spur. Zehn Tage ist es mittlerweile her, dass der zweieinhalbjährige Junge aus dem Garten seiner Großeltern im französischen Le Vernet verschwunden ist. Sechs Tage lang durchkämmten Polizisten, Freiwillige und sogar die Armee das kleine Bergdorf. Sie durchsuchten die Gebäude des Ortes, inspizierten Fahrzeuge und befragten über zwei Dutzend Menschen. Neben Spürhunden kamen Hubschrauber und Wärmebilddrohnen zum Einsatz. Doch all dies führte nicht zum Ziel - am vergangenen Donnerstag wurde die Suchaktion daher erfolglos eingestellt.
Damit ist der Vermisstenfall um den kleinen Jungen aber keineswegs beendet. Statt der Suche vor Ort stehe jetzt jedoch die Analyse von Hinweisen im Fokus, heißt es laut dem französischen Fernsehsender BFMTV von der zuständigen Staatsanwaltschaft in Digne-les-Bains. Anfang der Woche wurde dazu offiziell ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wie die Zeitung "Le Figaro" berichtete. Diese Formalie war notwendig, da nach französischem Recht polizeiliche Maßnahmen ohne offizielles Verfahren nach acht Tagen nicht fortgeführt werden können.
Staatsanwalt Rémy Avon machte gegenüber BFMTV deutlich, dass die Suche grundsätzlich in alle Richtungen gehe. "Keine These wird bevorzugt, keine These wird ausgeschlossen", beteuerte er. Denn "vielleicht haben wir, ohne es zu wissen, einen entscheidenden Hinweis gesammelt". Es gehe darum, "die Ursachen des besorgniserregenden Verschwindens" zu erforschen.
Tierangriff
Dafür rekonstruierten die Ermittler den Tag des Verschwindens, den 8. Juli, soweit wie möglich. Sicher ist, dass Émile Urlaub bei seinen Großeltern im französischen Ort Alpe-de-Haute-Provence machte. Am Nachmittag war er mit ihnen und vielen anderen Verwandten zusammen, als er für einen kurzen Moment aus den Augen gelassen wurde, wie die Zeitung "Le Figaro" berichtete. Wenig später, gegen 17.15 Uhr, sahen zwei Nachbarn den Jungen alleine in einer Gasse. Sie schlugen keinen Alarm, denn laut örtlichen Medien ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder in dem Dorf alleine unterwegs sind. Was aber geschah nach dieser letzten Sichtung mit Émile?
Schnell kam der Verdacht auf, ein Tier könnte etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben. Denkbar sei ein Angriff durch einen Greifvogel, berichtete BFMTV am vergangenen Freitag unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft. Tatsächlich leben in der Region einige Geier. Die Tiere nähern sich Menschen zwar nur selten, Kleinkinder sind allerdings deutlich anfälliger für Angriffe als Erwachsene. In der Zwischenzeit konnten die Behörden dies jedoch ausschließen.
Für ebenso unwahrscheinlich halten sie es, dass Émile von einem Wolf attackiert wurde. Diese mögliche Ursache des Verschwindens wurde vor allem von den Einwohnerinnen und Einwohnern des 125-Seelen-Dorfes diskutiert. Wolfsangriffe auf Menschen sind jedoch äußerst selten. Vor allem aber fanden die Suchenden weder im Dorf noch auf den umliegenden Feldern oder in den Wäldern eine Spur des vermissten Jungen.
Unfall
Passender erscheinen demnach die Unfalltheorien. So könnte Émile in den Bergen verunglückt sein. François Balique, der Bürgermeister des Ortes, sagte dem französischen Radiosender Franceinfo, es wäre möglich, dass sich der Junge in der bergigen Umgebung in 1200 Metern Höhe verlaufen habe. Möglich ist ebenso, dass er sich versteckt hat. So war er laut "Daily Mail" fasziniert von Schmetterlingen, jagte ihnen schon öfter nach. Ein Helfer vor Ort sagte gegenüber der britischen Zeitung, er könne sich vorstellen, dass sich Émile dafür vom Haus entfernt habe, dann müde wurde und in einem Versteck einschlief.
Um den Zweijährigen aus seinem möglichen Unterschlupf zu locken, suchte die Polizei den Ort auch mit Lautsprechern ab, aus denen die Stimme von Émiles Mutter zu hören war. Allerdings blieb auch diese Maßnahme ohne Erfolg. Sollte das kleine Kind tatsächlich in einem Versteck ausgeharrt haben, könnten ihm auch die hohen Temperaturen von bis zu 35 Grad in der vergangenen Woche sowie die lange Zeit ohne Wasser zum Verhängnis geworden sein.
Jüngst kam eine weitere Befürchtung auf. Der Zweijährige könnte von einer landwirtschaftlichen Maschine, vielleicht einer Erntemaschine, erfasst worden sein. Diese Vermutung äußerten Landwirte der Region gegenüber BFMTV. Sie glauben, dass Émile erst im Herbst gefunden werden könnte, wenn die Bauern ihre Tiere mit dem jetzt geernteten Heu füttern. "Manchmal finden wir Rehe", zitierte der Sender einen Bewohner von Le Vernet. In ähnlicher Weise, so der Bewohner, könnte das Kleinkind beim Laufen durch langes Gras von einer Maschine erfasst worden sein. "Das wäre schrecklich." Laut dem Sender setzen die Ermittler bei ihrer Suche nun einen hochsensiblen Metalldetektor ein, der Felder und Heuballen nach dem Jungen absuchen soll. Auch dies führte noch nicht zum Erfolg.
Verbrechen
Schließlich bleibt die Theorie eines Verbrechens. Die Staatsanwaltschaft schließt eigenen Angaben zufolge weder eine Entführung noch eine Verwicklung der eigenen Familie aus. Die französischen Ermittler bestätigten laut der "Daily Mail", dass das Haus von Émiles Eltern in La Bouilladisse in der Nähe von Marseille durchsucht worden war. Weitere Hinweise in diese Richtung oder in Bezug auf eine Entführung sind jedoch nicht öffentlich bekannt. Bürgermeister Balique schloss im Interview mit dem "Figaro" aus, dass Émiles Familie etwas mit dem Verschwinden des Zweijährigen zu tun haben könnte. Auch eine Entführung hält er für sehr unwahrscheinlich. Zum einen, weil es in Vernet sehr friedlich sei, zum anderen, weil Fremde in der kleinen Gemeinde sofort auffallen würden.
Balique hat daher eine andere Vermutung. "Ich kann mir am ehesten einen Verkehrsunfall vorstellen", sagte er der Zeitung. Der Fahrer habe den kleinen Jungen dann möglicherweise in Panik in sein Auto geladen und sei weggefahren. Auch die Polizei ging dieser Theorie laut der "Daily Mail" nach. Zu dieser Theorie passt die Tatsache, dass die eingesetzten Spürhunde keine Fährte des Jungen aufnehmen konnten. "Wenn er in der Umgebung gestorben wäre, hätten ihn die Hunde gerochen", zitiert die Zeitung "Le Point" einen Sprecher der Polizei.
Es gibt, zumindest öffentlich, keine Hinweise darauf, welche der Theorien am wahrscheinlichsten scheint. Auch die Staatsanwaltschaft hat sich zu dieser Frage bisher nicht geäußert. Das Schicksal des kleinen Émile bleibt damit auch zehn Tage nach seinem Verschwinden vollkommen ungeklärt.
Quelle: ntv.de