Zehntausende Ukrainer entführt? Berichte über brutale Verhöre in russischen Lagern
13.05.2022, 08:24 Uhr
Seit Wochen wirft die Ukraine der russischen Armee vor, in "Filtrationslagern" Zivilisten zu verhören und dann nach Russland zu verschleppen. Die USA gehen von Zehntausenden Entführten aus, Kiew von 1,2 Millionen. Das Vorgehen wäre nicht neu - es hat seinen Ursprung in der Sowjetunion.
Die USA gehen davon aus, dass Russland seit Beginn seines Angriffskriegs Zehntausende Ukrainerinnen und Ukrainer gewaltsam verschleppt hat. Allein aus der belagerten Hafenstadt Mariupol seien Tausende nach Russland oder in russisch kontrolliertes Gebiet gebracht worden, sagte der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael Carpenter, in Wien.
Die ukrainische Regierung schätzt die Zahl der verschleppten Ukrainer gar auf knapp 1,2 Millionen. Darunter sollen sich nach Angaben der Ombudsfrau Lyudmyla Denisowa auch mindestens 200.000 Kinder befinden. Nach Angaben Kiews betreibt Moskau zudem sogenannte Filtrationslager, in denen festgenommene Ukrainer verhört werden. Augenzeugen hätten von "brutalen Verhören" in diesen Lagern berichtet, sagte Carpenter. Dies und die Zwangsverschleppungen kämen Kriegsverbrechen gleich. "Wir dürfen dieses Übel nicht zulassen", sagte er.
"Filtrationslager" wurden erstmals Anfang der 1940er-Jahre in der Sowjetunion eingerichtet. Damals dienten sie dazu, unter den heimkehrenden Soldaten der "Roten Armee" Verräter aufzuspüren. Auch während der Tschetschenienkriege betrieb Russland derartige Internierungslager - vorgeblich, um Terroristen und Separatisten zu finden. Nichtregierungsorganisationen berichteten von Menschenrechtsverletzungen, unter anderem durch Folter im Zweiten Tschetschenienkrieg.
Auch aus dem Asowstal-Werk in Mariupol evakuierte Ukrainer machten Russland zuletzt schwere Vorwürfe. Ein Busfahrer, der Evakuierte transportierte, berichtete, dass Menschen in das ostukrainische Dorf Bezimenne gebracht worden seien, wo ein russisches "Filtrationslager" liege. Dort habe eine Kontrolle stattgefunden, die einige nicht "überstanden" hätten. Sie seien anschließend separiert worden. "Wir haben keine Ahnung, wohin", sagte der Busfahrer. "Vermutlich werden sie nach Russland gebracht."
Mit Erschießung gedroht?
Nach offizieller Darstellung sollen in den Lagern eventuelle Kämpfer von Zivilisten getrennt werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte jedoch: "Der ehrliche Name dafür ist ein anderer - das sind Konzentrationslager. So, wie sie die Nazis seinerzeit gebaut haben." Selenskyj kritisierte, dass Ukrainer aus diesen Lagern auch nach Russland gebracht würden. "Unter anderem deportieren sie Kinder - in der Hoffnung, dass sie vergessen, wo sie herkommen, wo ihr Zuhause ist."
Das Auswärtige Amt zeigte sich zuletzt besorgt über die Einrichtung von russischen "Filtrationslagern" in der Ukraine. Dem Ministerium lägen übereinstimmende Berichte über solche Lager vor, die "Schlimmstes vermuten" ließen, berichtete die "Welt am Sonntag" unter Bezug auf nicht namentlich genannte Quellen. "Sie beschreiben Praktiken bei den Verhören, die Zwang und auch Folter einschließen." Zwar seien die Berichte noch nicht von unabhängigen Hilfsorganisationen überprüft. Allerdings sei vielfach und übereinstimmend über die Ausübung von Zwang bei den Evakuierungen berichtet worden, wobei auch von angedrohter Erschießung die Rede gewesen sei.
Die Vierte Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verbietet "zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen sowie Deportationen von geschützten Personen aus besetztem Gebiet" in das Gebiet der Besatzungsmacht (Artikel 49). Der UN-Menschenrechtsrat hatte am Donnerstag mit überwältigender Mehrheit für eine Untersuchung mutmaßlicher russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine gestimmt.
Kiew wirft der russischen Armee vor, seit ihrem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar in zahlreichen Orten Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die Sender CNN und BBC veröffentlichten am Donnerstag Aufnahmen eines solchen möglichen Verbrechens von Mitte März. Auf den Aufnahmen einer Überwachungskamera war zu sehen, wie russische Soldaten offenbar zwei unbewaffnete Zivilisten in der Nähe eines Autohauses außerhalb von Kiew in den Rücken schießen. Einer der Männer starb noch vor Ort, der andere kurz darauf.
Quelle: ntv.de, mbe/AFP/dpa