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Rätsel im "Reichsbürger"-Prozess Das Prinzen-Netzwerk plante den Umsturz - aber wer war eingeweiht?

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Wolfram S. ist der erste der neun Angeklagten in Stuttgart, der sich zu den Vorwürfen einlässt.

Wolfram S. ist der erste der neun Angeklagten in Stuttgart, der sich zu den Vorwürfen einlässt.

(Foto: picture alliance/dpa)

Als Mitglied des militärischen Arms des "Reichsbürgernetzwerks" um Prinz Reuß soll Wolfram S. den Sturz der deutschen Demokratie geplant haben. Vor Gericht sagt der IT-Fachmann umfangreich aus. Er zeichnet das Bild eines naiven Mitläufers, der nichts gewusst haben will. Das Gericht hat Zweifel.

Mit dem Militär will Wolfram S. nichts am Hut haben. Gleich zu Beginn seiner Aussage betont der 55-Jährige, dass er den Wehrdienst als junger Mann verweigerte und mit Waffen nichts anfangen könne. Auf Menschen zu schießen, habe schon seit jeher gegen seine Gesinnung gesprochen. "Ich habe ja schon Schwierigkeiten mit Camouflage-Klamotten", setzt S. noch obendrauf. Politisch sei er ohnehin immer links-grün gewesen - zumindest "als ich noch gewählt habe".

Wer den hageren Mann mit dem schütteren Haar sprechen hört, so ruhig, bedächtig und stets höflich, sieht zunächst kaum einen Grund, an dem, was er über seine Gesinnung sagt, zu zweifeln. Wären da nicht die Handschellen um seine Handgelenke und das fast backsteindicke Panzerglas direkt vor seinem Gesicht.

Denn Wolfram S., der Mann mit der selbst erklärten Aversion gegen Militär und Gewalt, soll Teil des militärischen Arms des "Reichsbürgernetzwerks" um Heinrich XIII. Prinz Reuß gewesen sein. Die Gruppe soll kaum weniger als den Sturz der deutschen Demokratie geplant haben. Einen Staatsstreich, um ein autoritäres Regime zu errichten, mit dem Prinzen an der Spitze. Die Generalbundesanwaltschaft geht davon aus, dass die Umstürzler den Reichstag stürmen, Abgeordnete festnehmen und schließlich ihre eigene Staatsform etablieren wollten. Tote und Verletzte hätten sie dabei in Kauf genommen.

Zuständig für die Heimatschutzkompanien

Insgesamt 26 Mitglieder des Netzwerks müssen sich dafür in einem der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik verantworten. Es geht um Terror und Hochverrat - das schwerste aller Verbrechen gegen das Grundgesetz. Aufgeteilt wird das Mammutverfahren auf drei Prozesse an drei Oberlandesgerichten. Den Auftakt machte vergangene Woche das OLG Stuttgart. Im Hochsicherheitsgerichtssaal Stammheim wird gegen den militärischen Arm, den selbsternannten "M-Stab" der Gruppe, verhandelt. Neben S. sitzen acht weitere Männer zwischen Anfang 40 und Anfang 60 auf der Anklagebank.

Sie sollen für die militärische Absicherung des Umsturzplans verantwortlich gewesen sein. Dabei ging es laut der Anklage vor allem um den Aufbau sogenannter Heimatschutzkompanien - militärisch organisierte Gruppen, die den Umsturz und spätere "Säuberungsaktionen" auf regionaler Ebene hätten durchsetzen sollen. In Baden-Württemberg und Thüringen wären zwei örtliche Kompanien bereits in der Lage gewesen, eigenständig aktiv zu werden, heißt es von der Generalbundesanwaltschaft.

Die Vorwürfe der Anklage wiegen schwer. Wie üblich äußern sich die meisten der Angeklagten nicht dazu. Die Verteidigungsstrategie von Wolfram S. sieht anders aus: Der 55-Jährige wolle vollumfänglich aussagen, das hatte sein Anwalt zum Prozessauftakt überraschend angekündigt. Die Anklage sieht ihn gewissermaßen als IT-Kopf des militärischen Stabs. Er soll Laptops beschafft und eine digitale Infrastruktur für die Gruppe aufgesetzt haben. Speziell geht es um eine große Datenbank, die unabhängig von den großen IT-Firmen arbeitet.

Fischertechnik und 2,8er Abi

Als S. am Tag seiner bevorstehenden Aussage, den Hochsicherheitsgerichtssaal in Stuttgart-Stammheim betritt, ist er akribisch vorbereitet. Etliche Karteikarten hat er beschrieben, etwas nervös nestelt er nun an ihnen herum. Dann beginnt seine Einlassung, für die ein Prozesstag nicht ausreichen wird - und statt um Waffenarsenale und Umsturzfantasien geht es zunächst einmal für mehrere Stunden um eine Fischertechnik-Kindheit, ein 2,8er Abitur und besagte Wehrdienstverweigerung.

S. beschreibt dem Gericht eine glückliche Kindheit in einer gutbürgerlichen Familie: Der Vater Arzt, die Mutter Hausfrau, er selbst ein typisches "Warum?"-Kind. Alles habe er hinterfragt, immer habe er nach der Ursache gesucht. Als er mit zehn Jahren den Föhn der Mutter auseinanderbaut, um "auf Fehleranalyse" zu gehen, ist seine Liebe für Elektrotechnik besiegelt.

Nach dem Abi jobbt er in Computerläden, studiert schließlich Sensorsystemtechnik in Karlsruhe und lernt dort seine spätere Frau kennen. 2004 wird ihr gemeinsamer Sohn geboren, 2021 lassen sie sich scheiden. Zu beiden halte er weiterhin guten Kontakt. Denn auch dieses Bild zeichnet S. von sich selbst: Das eines besonders fürsorglichen Menschen. Einer, der sich ehrenamtlich um Leukämiekranke kümmert und der sich um den Schutz seiner Familie sorgt.

Die vielen Ängste des S.

Lange Zeit, das wird in der Aussage des S. deutlich, lebt der Elektro-Nerd mit Begeisterung für Fotografie und Natur völlig unauffällig. Dann bekommt er den Technik-Roman "Blackout" in die Hände - und langsam beginnt sich etwas zu ändern. "Das war für mich der Moment: oh Scheiße", erinnert sich der Angeklagte vor Gericht. Auch wenn er nicht der Typ für Fluchtrucksäcke sei, lässt S. die Furcht vor einem weltweiten Stromausfall und seinen katastrophalen Folgen fortan nicht mehr los.

Überhaupt sickern die vielen Ängste des Angeklagten schnell durch. Er spricht von Sonnenstürmen, einem kaum ausreichenden Katastrophenschutz in Deutschland, einem "fragilen System" und schließlich dem Datenmissbrauch der "Big Five", wie S. Großkonzerne wie Meta und Google nennt. Als S. fürchtet, ausgespäht und manipuliert zu werden, bittet er Freunde, die Whatsapp nutzen, seine Nummer zu löschen, so stellt er es vor Gericht dar. "Ich wurde paranoid."

Doch mit der Panik wächst auch eine Vision in ihm, so S. Er will ein alternatives soziales Medium kreieren. Eine Plattform, die Menschen verbindet, aber "anders ist als Facebook". Dem Elektrotechniker schwebte nach eigener Aussage eine Verbindung von Blogbeiträgen und Krisenvorsorge vor. Selbst einen Namen habe er schon für sein Projekt gehabt: "Dorfcafé". S. wird im Laufe seiner Aussage immer wieder um diese Idee kreisen, ist sie ihm zufolge doch auch der Grund für seine Mitgliedschaft in der Reuß-Gruppe.

Die Vision des S.

Denn seine Verbindung zu Reuß und seinen Anhängern sei, so stellt es S. dar, nichts anderes gewesen als eine völlig harmlose Win-Win-Situation: Als eine Bekannte im Sommer 2022 einen IT-ler für den Aufbau eines Katastrophenschutzes, sogenannter Heimatschutztruppen suchte, sagte er zu. In erster Linie habe er sich dabei erhofft, die Testversion seines "Dorfcafés" zu erstellen, betont S. vor Gericht. Gleichzeitig passte das Thema Krisenvorsorge perfekt für ihn, der ohnehin Angst vor dem Systemabsturz hat.

Die Verteidigungsstrategie des S. wird an dieser Stelle deutlich: Der 55-Jährige bestreitet nicht, etwas mit der Gruppe um Prinz Reuß zu tun gehabt zu haben. Von deren mutmaßlichen Plänen, gar von einem Umsturz des Landes, habe er jedoch nichts gewusst. S. präsentiert sich als der Naive der Gruppe, der zwar mitgezogen wurde, bei dem aber keine kriminelle Energie zu finden ist. Die Generalbundesanwaltschaft habe ihn fälschlicherweise mit den anderen Angeklagten in einen Topf geworfen, so die Essenz seiner Einlassung.

Dass die Verteidigung bei S. auf eine durchaus riskante Strategie setzt, alle Fragen des Gerichts zu beantworten, wundert umso weniger, je länger er spricht. Denn der 55-Jährige ist eloquent. Selbstverständlich nutzt er Begriffe wie sukzessive und respektive, stets hat er dabei ein Lächeln im Gesicht. Er entschuldigt sich, wenn er hinter dem dicken Panzerglas etwas akustisch nicht verstanden hat, und bietet dem Richter höflich an, es erneut zu versuchen, sollte er sich zu "wolkig" ausgedrückt haben. "Kooperation statt Konfrontation" dürfte damit ebenfalls zur Taktik der Verteidigung gehören.

"Die Schwurbler sind mir erst einmal egal"

Während S. dem Gericht extrem zugewandt scheint, fällt seine Distanz zu den Mitangeklagten auf. Der IT-ler würdigt die acht Männer keines Blickes. Dabei sitzen sie gemeinsam hinter Panzerglas auf der Anklagebank, zwischen ihnen liegen kaum 50 Zentimeter. Während es dem Rest der Gruppe unter diesen Voraussetzungen schwerfällt, dem Prozess statt Gesprächen untereinander zu folgen, ist es bei S., als nähme er sie nicht einmal wahr. Es wirkt, als wolle er dem Gericht auch räumlich zeigen, wie wenig er in die Gruppe involviert gewesen sein will. Als "Schwurbler" bezeichnet er seine Mitangeklagten.

An dieser Stelle unterbricht Richter Joachim Holzhausen den Angeklagten zum ersten Mal harsch. Anfänglich zugewandt, vergehen nun kaum fünf Minuten, in denen der Vorsitzende keine kritische Nachfrage stellt. "Es geht mir hier um Sie, die Schwurbler sind mir erst einmal egal." Schnell zeichnet sich ab, dass die Kammer der Schaf-im-Wolfspelz-Version des S. nur wenig Glauben schenkt.

So gibt es etwa die Situation, in der das Gericht ihm das Muster für einen Wehrpass der "neuen Deutschen Armee" vorhält. Die Bezeichnung und das Design mit großem Adler sprechen dafür, dass die Gruppe ein neues Staatssystem durchsetzen wollte - auch mit Gewalt. Diese Vorbereitungen wurden auf dem Laptop des S. gefunden, ebenso wie etliche weitere Dokumente, auf denen etwa von Militärgerichten die Rede ist. Holzhausen sagt dazu: "Was denkt sich der Herr S., der ein hochintelligenter Mann ist, ein Mensch, der immens nachdenkt - aber ausgerechnet hier nicht? Das macht mir ein Problem."

Nichts gehört, nichts gesehen

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S. pocht in heiklen Momenten wie diesen fast immer auf Erinnerungslücken. Oder aber, er habe die Indizien, die Fragezeichen, die sogenannten Red Flags, nicht wahrgenommen, weil es ihm nur um die Technik ging, nicht ums Inhaltliche. Ging es etwa um den "Tag X" oder die "Allianz"- zwei zentrale Theorien der Reuß-Gruppe - habe er sie schlicht nicht hinterfragt. Plötzlich gibt sich S. phlegmatisch: Was er nicht überprüfen könne, kümmere ihn nicht.

Nach dem ersten Teil seiner Einlassung ist nur schwer zu glauben, dass S. tatsächlich nicht wusste, was der Plan der Reuß-Gruppe war. Weder die Technik-Scheuklappen klingen wirklich überzeugend, noch die Vorstellung, dass dem einstigen Warum-Kind egal war, was mit seiner digitalen Infrastruktur geschieht. Sollte es sich bei den Reaktionen des Angeklagten um Ausflüchte handeln, könnten die kommenden Prozesstage wie ein Brennglas wirken. Dann ist es nicht nur Richter Holzhausen, sondern auch die Generalbundesanwaltschaft, die S. in die Mangel nehmen wird.

Quelle: ntv.de

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