Politik

"Reichsbürger"-Verfahren starten Was die Prozesse gegen die Reuß-Gruppe so kompliziert macht

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Bei der großangelegten Razzia im Dezember 2022 wurden 25 mutmaßliche Mitglieder des "Reichsbürgernetzwerks" um Prinz Reuß festgenommen.

Bei der großangelegten Razzia im Dezember 2022 wurden 25 mutmaßliche Mitglieder des "Reichsbürgernetzwerks" um Prinz Reuß festgenommen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Sie sollen nicht weniger als den Umsturz Deutschlands geplant haben: Am Montag beginnt das erste von drei Verfahren gegen Heinrich XIII. Prinz Reuß und 25 seiner Anhänger. Die Dimensionen der Prozesse sind beispiellos - die Justiz steht vor einer koordinativen Mammutaufgabe.

Rückblick, 7. Dezember 2022: Rund 3000 Polizisten stürmen mehr als 130 Wohnungen und Häuser in gleich mehreren Bundesländern, in Österreich und Italien. 25 Männer und Frauen aus dem sogenannten "Reichsbürger"-Netzwerk um Heinrich XIII. Prinz Reuß werden festgenommen. Sie sollen, das geht bald darauf um die Welt, einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland geplant haben. Einen Staatsstreich, um ein neues Deutschland zu errichten. Die Beamten hätten die Verschwörer-Gruppe zerschlagen, heißt es damals vom Generalbundesanwalt. Damit habe Deutschland "vielleicht das Vierte Reich abgewendet", schreibt daraufhin sogar die "New York Times".

Nun, rund 16 Monate später, steht Deutschland vor Terror-Verfahren, deren Ausmaße nur mit wenigen Prozessen verglichen werden können. 26 Anhänger der Reuß-Gruppe sind an drei Oberlandesgerichten angeklagt, ab Montag müssen sich die ersten von ihnen in Stuttgart verantworten. Die Generalbundesanwaltschaft wirft den meisten von ihnen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens vor. Damit droht ihnen bis zu zehn Jahre Haft.

Mehrere Angeklagte müssen sich außerdem wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung, wegen Waffendelikten oder Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat verantworten. Eine Person ist wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Bei 25 der Angeklagten handelt es sich um deutsche Staatsangehörige, eine der Angeklagten ist Russin.

Die Aufteilung auf drei Gerichte

"Das ist eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik", fasst Andreas Singer, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, die kommenden Prozesse im Gespräch mit der dpa zusammen. Ein Jahr lang hatte die Generalbundesanwaltschaft nach der gigantischen Razzia ermittelt - Beweise und Indizien auf rund 400.000 Blatt füllen mittlerweile 700 Leitz-Ordner. Dass diese Ausmaße zu immens für ein Gericht sind, hatte Karlsruhe entschieden. Aufgeteilt wird das Verfahren daher auf das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart, das OLG Frankfurt und das OLG München.

Dass nun gleich drei Kammern den Hut aufhaben, macht die juristische Aufarbeitung der Reuß-Gruppe allerdings kaum weniger komplex. Angeklagte in einem Verfahren können als Zeugen in anderen Verfahren geladen werden. Jedes Gericht muss seine eigenen Beweise erheben. Dabei steht bereits jetzt fest, dass jede der drei Beweisaufnahmen enorm aufwändig sein werden, wie nicht nur die bis ins kommende Jahr angesetzten Verhandlungstage vermuten lassen.

Denn das, was das mutmaßliche "Reichsbürger"-Netzwerk laut der Anklage geplant haben soll, klingt gleichermaßen absurd wie gewaltig: Demnach wollten die Angeklagten die demokratische Ordnung in Deutschland gewaltsam stürzen und durch eine eigene Staatsform ersetzen, die der Bundesanwaltschaft zufolge bereits skizziert wurde. Zum Plan soll auch gehört haben, bewaffnet in den Reichstag einzudringen, um dort Mitglieder des Bundestages festzunehmen und so den Systemabsturz herbeizuführen. Weitere Beteiligte hätten dann bundesweit mit Waffengewalt die Institutionen auf Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene übernehmen sollen. Dafür seien 286 militärisch organisierte "Heimatschutzkompanien" vorgesehen gewesen. Die Angeklagten hätten auch Tote in Kauf genommen, wirft ihnen die Bundesanwaltschaft vor.

Die mutmaßlichen Umsturzpläne der Reuß-Gruppe

Um ihren Plan umzusetzen, seien bereits konkrete Vorbereitungen getroffen worden, etwa "die Rekrutierung von militärischem Personal, die Beschaffung von Ausrüstung und die Durchführung eines Schießtrainings". Tatsächlich verfügte die Gruppe laut Anklage über mehrere hundert Waffen und mindestens 148.000 Munitionsteile sowie etwa 500.000 Euro. Wie der Angeklagte Maximilian E. kürzlich gegenüber "Stern" und RTL zugab, seien zudem bereits unterirdische Gänge unter dem Reichstag und anderen Parlamentsgebäuden ausgekundschaftet worden.

Nach dem Putsch, so nimmt es die Anklage an, sollte eine Übergangsregierung eingesetzt werden, in der Heinrich XIII. Prinz Reuß als Staatsoberhaupt fungiert. Die ehemalige Berliner Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann hätte für das Ressort Justiz zuständig sein sollen. Als "Außenminister" wurde Tim Paul G., ein Rechtsanwalt aus Hannover, gehandelt.

Diese Übergangsregierung hätte dann mit den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine neue staatliche Ordnung in Deutschland verhandeln sollen. Zentraler Ansprechpartner sei der Gruppe zufolge aber nur Russland gewesen. Um ihr Vorhaben zu schützen, hätte die Gruppe eine Verschwiegenheitserklärung ausgearbeitet. Für Verstöße war laut der Anklage die Todesstrafe vorgesehen.

Die Gerichte müssen bei null beginnen

Träfe das, was die Anklage skizziert, zu, dürfte es keine Zweifel daran geben, dass es sich bei der Gruppe um Prinz Reuß um eine terroristische Vereinigung handelt. Vor den Gerichten entscheidet nun jedoch, inwiefern die Vorwürfe - und die tatsächliche Gefahr, die mutmaßlich von der Gruppe ausging - belegt werden können. Dabei stehen die Richter in Stuttgart, Frankfurt und München vor einer besonderen Herausforderung, denn die Reuß-Gruppe ist - aus strafgerichtlicher Sicht - noch unbekannt. Ihre Merkmale wurden bisher noch von keinem Gericht festgestellt.

So kreist die Beweisaufnahme bei Organisationsdelikten wie der Betätigung in kriminellen oder terroristischen Vereinigungen immer um zwei Punkte: die Aktivitäten der Mitglieder und die Merkmale der Vereinigung, sprich ihre Struktur, Hierarchie und Willensbildungsprozesse. Letzteres ist in den meisten Terrorprozessen bekannt, wie der Jurist Christian Rath bei "Legal Tribune Online" schreibt. In ähnlichen Verfahren, zum Beispiel gegen die kurdische PKK, könnten die Richter dann auf Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppe aus anderen Urteilen zurückgreifen, wenn diese noch nicht allzu alt sind.

In den Verfahren um die Reuß-Gruppe müssen die Kammern nun bei null beginnen. Noch nie zuvor haben sich gleich drei Gerichte parallel mit derselben mutmaßlich terroristischen Vereinigung beschäftigt. Gerade in diesem Schritt dürfte die Aufteilung der Prozesse zur koordinativen Meisterleistung werden. Denn die verschiedenen Gerichte müssen die Interna der Gruppe getrennt voneinander feststellen und bewerten. Möglich wäre es also, dass die Einstufung von Reuß und seinen Anhängern als Terror-Gruppe unterschiedlich ausfällt. Dass sich die Urteile am Ende der Prozesse widersprechen, ist jedoch unwahrscheinlich, wie Gerichtspräsident Singer andeutet. Vielmehr wird erwartet, dass die Bundesanwaltschaft als Anklagebehörde den Überblick be- und die Fäden zusammenhält. Der Generalbundesanwalt sei das Bindeglied für den Transfer von Informationen, die Klammer, erklärt Singer.

"Müssen uns mit den Individuen auseinandersetzen"

Schließlich dürfte die Aufteilung des Falles auf drei Gerichte trotz selbst geschaffener Hürden schon aus logistischen Gründen alternativlos gewesen sein. So werden allein bei dem Prozess in Stuttgart gegen neun der Angeklagten 22 Verteidiger erwartet. Hinzu kommen fünf Richter und zwei Ergänzungsrichter als Ersatzspieler. Vor dem Hintergrund eines Staatsschutzverfahrens gelten außerdem strengste Sicherheitsvorkehrungen: Alle Angeklagten sitzen hinter dicken Glasscheiben, mit ihren Verteidigern sprechen sie per Mikrofon. Damit sprengen schon die Dimensionen eines einzelnen Verfahren die Kapazitäten der meisten Gerichte.

Doch es sind nicht nur die Räumlichkeiten. Bei der Entscheidung, den Mammutprozess auf drei Verfahren aufzuteilen, spielen vor allem die Verfahrensrechte der Angeklagten eine Rolle. "Wir wollen nicht in irgendeiner Turnhalle einen Schauprozess abziehen, sondern müssen uns mit den Individuen auseinandersetzen", erklärt Singer. Denn Gruppenurteile gibt es im Rechtsstaat nicht. Das Gericht muss sich von der individuellen Schuld jedes und jeder Angeklagten überzeugen - Wie stark war er oder sie in die Gruppe eingebunden? Wie sehen die individuellen Tatbeiträge aus? Entscheidende Fragen wie diese dürften ein Grund für die Aufteilung der Prozesse qua Funktion der Angeklagten sein.

Im ersten Prozess in Stuttgart ab dem kommenden Montag geht es um den sogenannten militärischen Arm. Dieser habe die geplante Machtübernahme mit Waffengewalt durchsetzen sollen. Angeklagt sind neun Männer - laut der Anklage waren sie vor allem für die sogenannten Heimatschutzkompanien sowie für das Anwerben neuer Mitglieder und Propaganda verantwortlich. Zu ihnen gehört auch Markus L., mit dem sich das Stuttgarter Gericht zum Auftakt des Prozesses beschäftigen wird. L. muss sich als einziger der Angeklagten auch wegen versuchten Mordes verantworten, da er bei der Durchsuchung seiner Wohnung im März 2022 aus nächster Nähe auf Polizisten geschossen haben soll.

"Keine netten Onkel"

Ab dem 21. Mai sitzt dann die mutmaßliche Führungsriege, der sogenannte Rat, in Frankfurt vor Gericht. Zu den neun Angeklagten gehören die wohl bekanntesten Beschuldigten: Heinrich XIII Prinz Reuß und der ehemalige Oberst und Kommandeur des Fallschirmjägerbattalions 251, Rüdiger P., die laut Anklage die gemeinsame Leitung der Gruppe übernahmen. P. soll dabei an der Spitze des militärischen Arms gestanden haben. Neben ihnen sitzen auch die Ex-AfD-Abgeordnete und Richterin Birgit Malsack-Winkemann sowie der frühere Bundeswehroffizier Maximilian E. auf der Anklagebank.

Der Prozess gegen die übrigen Mitglieder, denen die Anklage vor allem Verwaltungsaufgaben für das mutmaßliche "Reichsbürger"-Netzwerk zuschreibt, startet am 18. Juni in München.

So viel zeichnet sich bereits jetzt ab: Ab Montag beginnt ein Stück Justizgeschichte. Derartige Dimensionen von Terrorprozessen und die koordinative Mammutaufgabe sind mit kaum einem Terror-Verfahren in der Geschichte zu vergleichen. Zudem könnte der juristische Ausgang des Verfahrens um die Reuß-Gruppe ein wichtiger Wegweiser werden. Denn die wachsende Zahl an Anklagen gegen "Reichsbürger" und Rechtsextreme sei Teil einer besorgniserregenden gesellschaftlichen Entwicklung, erklärte Singer. Im Vorfeld des nun startenden Prozesses betonte er: "Das sind keine netten Onkel, die irgendwelche komischen Ideen hatten."

In dubio pro reo

Mehr zum Thema

Ob nett oder nicht, auch die psychologische Verfassung der Angeklagten dürfte in den Prozessen eine Rolle spielen. So stehen laut der Anklage etliche Verschwörungsmythen hinter den Plänen der Reuß-Gruppe. Demnach waren die mutmaßlichen Verschwörer etwa überzeugt davon, dass Deutschland von Angehörigen eines sogenannten Deep State regiert werde und nur von einer Allianz befreit werden könne. Mit dieser nicht existierenden Allianz hätte die Gruppe zusammenarbeiten wollen. Gewartet hätte sie auf ein geheimes Zeichen, das den Startschuss für den "Tag X" - den Angriff auf die staatlichen Institutionen - geben sollte.

Am Ende der Beweisaufnahmen müssen die Richter in Stuttgart, Frankfurt und München überzeugt sein: von der Schuldfähigkeit der Angeklagten und von den Ausführungen der Anklage. Nur wenn daran keine Zweifel mehr bestehen, sind Prinz Reuß und seine Anhänger zu verurteilen. Andernfalls und bis dahin gilt die Unschuldsvermutung.

Quelle: ntv.de, mit dpa/AFP

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen