Droht Israel eine zweite Front? "Das hätte verheerende Konsequenzen für den Libanon"
11.10.2023, 09:54 Uhr Artikel anhören
Arye Sharuz Shalicar kam 1977 als Sohn persisch-jüdischer Eltern in Göttingen zur Welt und wuchs in Berlin auf. 2001 wanderte er nach Israel aus. 2021 erschien sein Buch "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude". Aktuell ist Shalicar Pressesprecher der israelischen Streitkräfte.
Es stehen harte Tage bevor, sagt Arye Sharuz Shalicar, Sprecher der israelischen Streitkräfte (IDF), im Interview mit ntv.de. Im Moment konzentriere sich die Armee auf den Antiterrorkampf und die Befreiung der Geiseln. Dies sei allerdings schwierig. "Wir wissen, dass die Hamas seit vielen Jahren ein Netzwerk an Terrortunneln unter dem Gazastreifen aufgebaut hat. Dass diese unter zivilen Einrichtungen wie Kindergärten, Moscheen und so weiter liegen, macht die gesamte Situation noch schwieriger."
ntv.de: Fünfzig Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg ist Israel erneut von seinen Feinden überrascht worden. Wie konnte es dazu kommen?
Arye Sharuz Shalicar: Diese Frage stellen sich die Menschen weltweit. Wie es dazu kommen konnte und wo die Fehler liegen, wird gründlichst untersucht werden, jedoch nicht während der Kriegshandlungen. Denn im Moment liegt der Fokus auf dem Antiterrorkampf und natürlich auf den Geiseln.
Befürchten Sie, dass den Geiseln Vergewaltigungen oder Ermordung drohen?
Solche Horrorszenarien spielen sich in allen unseren Köpfen ab. Wir sollten aber kurz durchatmen und uns aufs Wesentliche konzentrieren. Wir wissen natürlich, in welcher Situation sich die verschleppten Israelis - darunter junge Frauen, Kinder - befinden. Es ist keine einfache Situation. Das ist eine Wunde, die bei allen Israelis noch sehr lange offenbleiben und für viele niemals heilen wird. Umso wichtiger ist das Vorgehen der IDF in den nächsten Tagen und Wochen.
Kann die israelische Armee die Geiseln befreien?
Dies ist keine einfache Sache. Wir wissen, dass die Hamas seit vielen Jahren ein Netzwerk an Terrortunneln unter dem Gazastreifen aufgebaut hat. Dass diese unter zivilen Einrichtungen wie Kindergärten, Moscheen und so weiter liegen, macht die gesamte Situation noch schwieriger. Jedoch ist es eines der wichtigsten Ziele, die wir vor Augen haben, jeden Israeli wieder gesund aus dieser Situation herauszubekommen.
Kommt eine Bodenoffensive der IDF?
Es gibt mehrere Optionen, die auf dem Tisch liegen. In den nächsten Tagen wird sich herausstellen, wie es weitergeht. Aus Sicherheitsgründen kann ich natürlich über operative Maßnahmen nichts sagen.
Es gab fast 1000 Tote an einem einzigen Tag. Ist das das schlimmste Ereignis für das jüdische Volk seit dem Holocaust?
Ich habe keine Statistiken, doch fast 1000 ermordete Israelis in 24 Stunden ist eine Zahl, die wir in keinem der Kriege den letzten Jahrzehnten zu vermelden hatten. Selbst beim Unabhängigkeitskrieg 1948 gab es kein solches Massaker, wo auch Kinder in diesem Ausmaß kaltblütig ermordet wurden.
Auf einem Musik-Festival wurden Menschen kaltblütig erschossen, Frauen vor den Leichen ihrer Freunde vergewaltigt und Dutzende nach Gaza verschleppt. Wie erklären Sie diesen Terror?
Bis vor Kurzem war ich nicht der Meinung, dass man die Hamas und den Islamischen Dschihad [eine weitere im Gazastreifen operierende Terrorgruppe, Anm.d.Red.] mit Blick auf Ziele und Vorgehensweise mit dem "Islamischen Staat" gleichsetzen kann. Im Endeffekt aber ist es das gleiche Verhalten, denn sie haben sich wie Bestien über Kinder und Frauen hergemacht, und das unter lauten "Allahu Akbar"-Rufen. Auf Pickup-Trucks sind sie schwerbewaffnet durch die Straßen gezogen und haben wahllos auf Zivilisten geschossen. Das ist sehr gut mit dem IS vergleichbar.
Also kein Unterschied zwischen IS, Hamas und dem Iran?
Es sind alles radikal-islamistische Formen. Manchmal als Staat, manchmal als Terrororganisation. Sie alle können nur eine Sache, und das ist, in erster Linie ihre eigene Bevölkerung, aber auch ihre Feinde und Widersacher zu terrorisieren, zu ermorden und zu entführen.
Die libanesische Terrororganisation Hisbollah droht mit einem Angriff aus dem Norden. Droht von dort eine zweite Front?
Zunächst einmal hat sich die IDF auf einen Mehrfrontenkrieg in den letzten Jahren schon vorbereitet, da man davon ausgeht, dass so eine Gefahr sehr real ist. In den letzten drei Tagen gab es einzelne Aktionen aus dem Libanon. Einzelne Terroristen sind über die Grenze gekommen und wurden teilweise getötet. Andere haben sich wieder zurückgezogen. Natürlich passiert dort alles unter den Augen der Hisbollah. Keine Terrorgruppe kann vom Libanon aus aktiv sein, ohne dass die Schiitenmiliz davon weiß. Sie ist unser erster Adressat, sollten uns Terroristen an einzelnen Stellen angreifen. Ich hoffe, sie haben unsere Botschaft verstanden, die ihnen über verschiedene Kanäle übermittelt wurde, und sie nicht auf den Terrorzug der Hamas und des Islamischen Dschihad aufspringen, denn das hätte verheerende Konsequenzen für die Hisbollah und den Libanon.
Kam der Befehl zur Hamas-Offensive aus Teheran?
Definitiv sitzen die Befehlsgeber der palästinensischen Terrororganisationen in Teheran und im Südlibanon beziehungsweise in Beirut. Dieses Dreieck, zu dem auch der Gazastreifen gehört, arbeitet seit Jahren im allerengsten Kontakt zusammen. Deswegen ist es nichts Neues, dass die Aktivitäten der Hamas und des Islamischen Dschihad auch mit der Hisbollah und dem Mullah-Regime zu tun haben. Jedes Jahr fließen hunderte Millionen von Euro aus dem Iran zu ihren Stellvertretern in den Südlibanon und in den Gazastreifen.
Die Vernichtung Israels gehört zur iranischen Staatsdoktrin. Ist dies Teil ihrer Einkreisungsstrategie?
Das Mullah-Regime hat schon öfter ausgesprochen, Israel von der Landkarte löschen zu wollen. Wie auch die Hisbollah sowie weitere radikalislamische Organisationen. Auch wenn wir das im ständig im Auge haben, konzentrieren wir uns doch zunächst einmal auf die direkte Terrorsituation aus Gaza, wo wir jetzt enorm aktiv sind, mit Blick auch auf die anderen Grenzen um uns herum.
Israel könnte den Iran angreifen. Droht ein Flächenbrand im Nahen Osten?
Israel würde niemals den Gazastreifen, den Südlibanon und auch nicht den Iran einfach so aus Lust und Laune angreifen. Jedoch wenn diese Terroristen uns angreifen und es zu Situationen kommt, wie bei dem Massaker am vergangenen Samstag - darauf wird die IDF natürlich reagieren.
Weltweit gab es Mitgefühl für Israel, aber auch Sympathie, nicht zuletzt in Deutschland, für den Terror der Hamas. Wie erklären Sie sich das?
Die Unterstützung für dieses barbarische Vorgehen, ob auf Berliner Straßen, in London oder anderen Städten in der westlichen Welt, ist schockierend. Oft sind das junge Menschen, die in diesen demokratischen Ländern geboren wurden und zum Teil deren Staatsangehörigkeit besitzen. Viele sind bereits in der zweiten oder dritten Generation in diesen Ländern. Da fragt man sich schon, wie tief die Indoktrination gegen Juden und Israel ist, dass sie es feiern und Süßigkeiten verteilen, wenn unschuldige Kinder und tanzende Menschen in einem Massaker ermordet werden - und nur, weil es Juden sind. Es ist ein Problem, das ganz tief liegt und Jahrhunderte zurückliegt. Die Politik der westlichen Staaten ist hier gefragt, sie müssen eine hundertprozentige Solidarität gegenüber Israel zeigen, der einzigen Demokratie in dieser Region, die immer wieder in Flammen aufgeht.
Trotz des Traumas vom Jom-Kippur-Krieg wurde dieser am Ende militärisch gewonnen. Welche Art von Erfolg muss Israel erreichen?
Es stehen harte Tage bevor. Die IDF hat verschiedene Optionen. Fest steht aber, dass jeder einzelne Terrorist der Hamas und des Islamischen Dschihad jetzt im Visier ist.
Mit Arye Sharuz Shalicar sprach Tal Leder
Quelle: ntv.de