Russische Angriffe auf AKWs "Das ist psychologische Kriegsführung"
06.03.2022, 09:44 Uhr
Das AKW Saporischschja auf einem Archivbild aus dem Jahr 2019.
(Foto: picture alliance / Photoshot)
In der Ukraine gibt es vier Kernkraftwerke mit insgesamt 17 Reaktoren. Doch erst durch den Angriff auf Saporischschja, das größte AKW Europas, rückte diese Gefahr des Ukraine-Krieges in den Vordergrund. Doch was bezweckt die russische Armee mit der Eroberung des Kraftwerks?
Bis Freitag dürfte Enerhodar den meisten Menschen in Deutschland und Europa unbekannt gewesen sein. Was schon an der Geschichte der 50.000-Einwohner-Stadt liegen dürfte. Erst 1972, zwei Jahre nach ihrer Gründung, bekam der am Dnepr gelegene Ort überhaupt seinen Namen, inspiriert durch das zeitgleich mit dem Ort erbaute nahe fossile Kraftwerk. Stadtrechte erhielt das in der Nähe der Großstadt Saporischschja gelegene Enerhodar im August 1985.
Doch seit Freitag spielt die Stadt eine wichtige Rolle in den Nachrichten. Grund dafür ist das in Enerhodar beheimatete Kernkraftwerk Saporischschja, mit dessen Bau 1981 begonnen wurde und das heute mit einer Leistung von 6000 Megawatt das größte Atomkraftwerk Europas ist. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag brach auf dem Gelände nach Kampfhandlungen, bei denen laut ukrainischen Angaben zwei Personen ums Leben kamen, ein Feuer aus. Am späten Samstagnachmittag meldeten die Verwaltungsbehörden von Saporischschja, dass die russische Armee Enerhodar wieder verlassen habe.
Und obwohl bei den Kämpfen um das AKW Saporischschja laut der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA keine Radioaktivität freigegeben wurde, was laut dem Bürgermeister von Saporischschja auch am Samstag der Fall war, rückten die Kämpfe einen anderen, die ersten Tage des Krieges wenig beachteten Aspekt in den Vordergrund: die ukrainische Atomenergie. Insgesamt betreibt das Land 17 Kernreaktoren an vier Standorten. Kämpfe rund um diese Anlagen oder gar schwere Treffer könnten für Europa katastrophale Folgen haben.
Grundsätzlich sind ukrainische AKWs ähnlich sicher wie deutsche
Bei diesem Sachverhalt stellt sich die Frage nach der Sicherheit ukrainischer Atomkraftwerke, die in der Vergangenheit wiederholt für Schlagzeilen sorgten. So wurden in Saporischschja 1993 Teile der Anlage stark radioaktiv kontaminiert, nachdem Wasser aus dem Primärkreislauf ausgetreten war. Nicht gerade vertrauenserweckend war in der Vergangenheit auch die Tatsache, dass nach dem Vorfall zwischen 1994 und 1997 gerade mal 2 Millionen Dollar in die Anlage investiert wurden. Zuletzt sorgte das Kernkraftwerk im November 2015 für Schlagzeilen, als nach Zerstörung mehrerer Hochspannungsmasten in der Oblast Cherson, mit denen Strom auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim geliefert wurde, es zu einem Lastabwurf von 500 Megawatt kam. Der staatliche Betreiber Energoatom stufte den Vorfall selbst als sehr gefährlich ein.
Doch diesbezüglich hat sich einiges getan. "Was die Sicherheit angeht, sind die ukrainischen Atomkraftwerke in einigen Aspekten, zum Beispiel der Sicherheitsauslegung, auf dem gleichen Niveau wie die in Deutschland und sogar besser als die in Frankreich", sagt Anna Veronika Wendland. Die Technikhistorikerin des Marburger Herder-Instituts für Osteuropaforschung habilitierte im vergangenen Jahr mit einer Arbeit über die kerntechnische Moderne im östlichen Europa und kennt sich wie sonst niemand in Deutschland mit der ukrainischen Atomenergie aus. Die Blöcke in Saporischschja hätten einen den westlichen Anlagen vergleichbaren Sicherheitsbehälter, im Fachjargon auch Containment genannt. Was jedoch nicht bedeutet, dass man nun entspannt durchatmen kann. "Einige Einschüsse würden die Anlagen dadurch aushalten, einen gezielten Raketenangriff aber nicht", erklärt Wendland.
Die große Frage ist nur, ob die russische Armee, die seit Kämpfen in der vergangenen Woche auch das stillgelegte AKW Tschernobyl kontrolliert, tatsächlich die ukrainischen Kernkraftwerke zerstören würde und warum sie diese überhaupt einnehmen möchte. "Würde es der russischen Armee darum gehen, mit der Kontrolle der Atomkraftwerke umkämpfte Städte wie Kiew von der Stromversorgung abzukoppeln, könnten sie es sich einfacher machen, indem die Verteilerzentren zerstört werden", so Wendland, die unter anderem auch in der ukrainischen Hauptstadt studiert hat. Auch an eine gezielte Zerstörung der Kraftwerke mag die Historikerin nicht glauben. "Ein gezielter Angriff auf ein Atomkraftwerk ist ein Kriegsverbrechen", stellt Wendland klar, ergänzt aber auch: "Die russische Armee will die Ukraine kontrollieren, da wäre es nicht in ihrem Sinne, solch eine sensible Infrastruktur zu zerstören."
Kein Grund zur Entwarnung
Neben der Beherrschung der Infrastruktur verweist Wendland auf einen anderen Aspekt. "Ein AKW anzugreifen, oder auch nur damit zu drohen, das ist auch ein Akt psychologischer Kriegsführung", sagt sie, was ihrer Meinung nach auch funktioniert. "Die teilweise panischen Reaktionen im Westen bestätigen dies leider. Auch die Reaktion der ukrainischen Führung haben dies befeuert." Wendland verweist dabei vor allem auf den ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj. Dieser sprach noch in der Nacht, als noch gar nicht klar war, was auf der Anlage geschehen war, von einer Nuklearkatastrophe und warf Russland nach den Kämpfen um das Kernkraftwerk Saporischschja "Nuklear-Terror" vor.
Dies bedeutet aber nicht, dass man durchatmen kann. Die Gefahr, dass eine Rakete irrtümlich eine Atomanlage trifft, ist durchaus gegeben. Vor allem, wenn die russische Armee ihre Angriffe nicht nur verstärken sollte, sondern auch schwerere Waffen einsetzt. Auch im Kernkraftwerk in Enerhodar dürfte es schwerer werden, zukünftig die Sicherheit zu gewährleisten. "Das Personal ist sehr gut ausgebildet und verantwortungsvoll. Die Sicherheit der Anlage hat für die Mitarbeiter Priorität, aber sie arbeiten unter Stress, bedroht von Bewaffneten, und in Ungewissheit über das Schicksal ihres Landes", erklärt Wendland. "Die Kämpfe um das Kraftwerk fanden aber vor dem Zaun der Anlage statt. Da gibt es so eine Art Campus mit Büroanlagen und Schulungszentrum, in dem sich auch der Simulator für die Kontrollräume befindet. Dieser ist nun aber zerstört. Nun müssten die Mitarbeiter für das Simulatortraining in ein anderes Kernkraftwerk reisen, zum Beispiel nach Riwne, wo baugleiche Blöcke in Betrieb sind."
Verstärkt mit dem Krieg in der Ukraine dürfte sich nun auch die IAEA beschäftigen. Wie Rafael Mariono Grossi, der Direktor der internationalen Aufsichtsbehörde erklärte, ist er bereit zu einer Reise nach Tschernobyl. Dort soll es nicht nur um das stillgelegte Kraftwerk gehen, sondern um die Sicherheit aller ukrainischen Nuklearanlagen.
Quelle: ntv.de