Interview zur Lage in Cherson "Vor einem Anschluss an Russland haben wir mehr Angst als vor Hunger"
05.03.2022, 16:04 Uhr
Er nennt sich "Jimmy", lebt in der ukrainischen Hafenstadt Cherson, die nordwestlich der Krim am Schwarzen Meer liegt, und er versorgt den US-Sender NBC und britische Sender mit Filmmaterial. Cherson wurde bereits vor ein paar Tagen von russischen Truppen erobert. Mit ntv.de spricht "Jimmy" am Telefon darüber, wie die Situation und die Stimmung dort nun ist.
ntv.de: Wie geht es dir, wie hast du die Eroberung von Cherson erlebt?
Jimmy: Hier wurde vier Tage gekämpft, dann sind in der Nacht zum Dienstag die Russen einmarschiert. Das hat uns praktisch im Schlaf erwischt. Als wir am Morgen die Bilder von den Russen in Cherson gesehen haben, hatten wir natürlich Angst. In den zwei Tagen davor waren wir komplett isoliert, zu Hause, fast wie in einem Corona-Lockdown. Keiner wusste, was passiert. Am Ende des zweiten Tags hat unser Bürgermeister eine Einigung mit dem russischen Militär ausgehandelt. Sechs Regeln wurden verhängt, darunter eine Ausgangssperre und wie wir uns in der Stadt verhalten sollen. Am 3. März durften wir wieder auf die Straße.
Wovor hast du Angst?
Wir sehen, was in Russland passiert, wie die staatliche Propaganda läuft und wie jede Opposition immer stärker unterdrückt wird. Und wir wissen ganz genau, dass es uns bald genauso geht, wenn die Russen bleiben. Für heute wurde in Cherson eine inszenierte Demonstration angesetzt. Dafür haben sie einige Lehrer von der Krim hergebracht - wir haben die Busse gesehen, aber wir hatten schon vorher Nachrichten von der Krim bekommen, dass die Busse kommen würden, damit die Lehrer hier mit russischen Flaggen demonstrieren. Deshalb haben wir auch eine Demonstration organisiert.
Die Bilder gibt es auf Twitter.
Ich war selbst da. Zuerst waren es zwei- bis dreihundert Leute mit ukrainischen Fahnen.
Wie haben die russischen Soldaten reagiert?
An einer Stelle standen sich die Krim-Lehrer und die ukrainischen Demonstranten gegenüber, nur eine Straße war zwischen ihnen. Dort haben wir gesehen, wie auf einmal ein Junge von zwei russischen Soldaten fortgeschleppt wurde. Als das passiert ist, sind erst zwei, dann drei, dann immer mehr Leute hingelaufen, um ihn zu befreien. Und sie haben ihn auch befreit. Danach hatte ich keine Angst mehr - auch nicht, als die Russen in die Luft geschossen haben. Das hat keinen mehr interessiert.
Es gab Schüsse?
Ja, aber dann sind nur noch mehr Leute zur Demonstration gekommen. Am Ende waren wir schätzungsweise zwei- bis dreitausend Menschen. Ich glaube, diese Demo war das Wichtigste, was heute in der ganzen Ukraine passiert ist. Wir haben uns gegen eine bewaffnete Armee gestellt und Dinge gerufen wie "Cherson ist unser", "Cherson ist Ukraine" und "Russisches Kriegsschiff, verpiss dich". Wir haben einen Jungen befreit. Das war unglaublich emotional.
Ein Film zeigt ein vermutlich russisches Militärfahrzeug, auf dem ein Mann mit ukrainischer Fahne steht.
Als russische Fahrzeuge an uns vorbeigefahren sind, haben alle "Schande!" gerufen. Dann ist ein Mann auf eines der Fahrzeuge aufgesprungen. Das hat natürlich allen gefallen. Ich weiß nicht, was die Russen mit ihm gemacht haben. Aber mein Eindruck ist, dass die Russen wirklich verängstigt sind, weil die lokale Bevölkerung sich überhaupt nicht freut, dass sie hier sind.
Welche Sprache spricht man in Cherson?
Ich spreche Russisch, wie die meisten hier. Aber wir sprechen immer häufiger Ukrainisch.
Hast du in den Tagen der Kämpfe um Cherson Tote gesehen?
Ich habe von Toten gehört, gesehen habe ich Tote nur auf Youtube. Ein Freund hat mir berichtet, dass es viele Tote gegeben hat. Aber es ist bei Weitem nicht so tragisch wie in Mariupol, Charkiw oder Kiew.
Gibt es Zerstörungen in der Stadt? Gab es Raketenbeschuss?
Ja. Ich wohne nicht weit weg vom Stadtzentrum, das Einkaufszentrum wurde getroffen und ein Wohngebäude auch, aber auch das ist kein Vergleich zu anderen Städten.
Wie ist die Versorgungslage?
Ich bin gut versorgt. Die meisten Familien haben Vorräte, wobei ich nicht weiß, wie lange die insgesamt ausreichen. Aber wir sind Ukrainer, wir haben den Holodomor erlebt, als mehr als drei Millionen Ukrainer von Stalin bewusst dem Hungertod ausgesetzt wurden, und danach den Zweiten Weltkrieg. Aus diesen Zeiten gibt es die Tradition, Vorräte aus dem Sommer aufzubewahren. Ein paar Märkte haben auch schon wieder geöffnet, die verkaufen, was sie schon vor der Belagerung auf Lager hatten. Aber Lebensmittel sind überhaupt kein Thema im Moment. Thema Nummer eins in der Stadt ist die Gefahr, dass die Russen hier das Gleiche machen wie in Donezk und Luhansk, nämlich eine "Volksrepublik" Cherson auszurufen. Wenn das passiert, gibt es danach wahrscheinlich einen Anschluss an Russland, wie 2014 mit der Krim. Davor haben wir viel mehr Angst als vor Hunger.
Ist das eine weitverbreitete Stimmung?
Ja, eindeutig. Gestern kam ein Konvoi aus Russland, ungefähr zehn LKW, die aus Krasnodar gekommen waren. Es gab Informationen, dass die Russen Fleisch, Mehl und andere Lebensmittel liefern würden. Vielleicht zehn Leute sind hingegangen, um sich etwas zu holen.
Was würdest du machen, wenn Cherson russisch wird?
Ich würde gehen. Russland wird gerade zu einem Gefängnis. In einem solchen Land könnte ich nicht existieren.
Präsident Selenskyj hat letzte Nacht in einem Video, das auf seinem Telegram-Kanal gepostet wurde, gesagt, die Ukrainer seien geeint von Uschhorod im Westen bis Charkiw im Osten, von Kiew im Norden bis Cherson im Süden. Wie kommen solche Botschaften bei dir und deinem Umfeld an?
Das habe ich nicht verfolgt, aber es stimmt. Die Russen sind unter dem Vorwand gekommen, dass es Nazis in der Ukraine gäbe und die Ukrainer von Nazis befreit werden müssten. Ich würde sagen: Nazis gab es hier keine, Nationalisten ja, aber nicht wirklich viele. Durch das, was hier jetzt passiert, sind wir jetzt alle Nationalisten. Ich kenne Leute, die vorher gezweifelt haben, ob Russland wirklich etwas Böses gegen uns im Schilde führt. Jetzt zweifelt keiner mehr. Es gab auch Leute, die vorher sagten, Selenskyj sei eine Marionette der USA und Putin meine es gut mit uns. Das ist vorbei. Wir sind jetzt alle Nationalisten - wir sind im Krieg.
Was ist deine Hoffnung, wie es nun weitergeht?
In der Lage, in der wir uns jetzt befinden, können wir nur hoffen und die Nachrichten unseres Militärs verfolgen. Im Moment sieht es so aus, dass unser Militär noch einige Zeit brauchen wird, bis sie uns befreien. Aber Zweifel daran, dass sie uns befreien, hat keiner hier. Niemand will sich eine Zukunft unter Russland vorstellen.
Mit Jimmy sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de