Experten kritisieren Truppenpläne"Das sind 3000 Dienstposten. Was machen die denn den ganzen Tag?"
Frauke Niemeyer
Die Bundeswehr muss wachsen, und zwar deutlich und schnell. Kann man dafür weiter auf Freiwillige setzen? Experten, die Fachpolitikern ihre Einschätzung geben, zweifeln daran und warnen vor dem Gesetz, das Schwarz-Rot dazu plant.
Losverfahren – ja oder nein? Auch über diesen Streitpunkt im geplanten Wehrdienst-Gesetz debattiert die schwarz-rote Koalition nun schon seit Wochen, dabei gibt es das Losverfahren offenbar längst in der Bundeswehr: Ausgelost wird bei der Truppe zum Beispiel, „wer zur Übung mit dem Großgerät mitfahren darf“, so berichten es die Grünen im Verteidigungsausschuss. Naheliegender Grund für das Losverfahren vor der Übung: Es gibt nicht genug Gerät für alle. Der Übungsbetrieb ist daher nicht sicherzustellen.
Es fehlt noch immer an allen Ecken und Enden bei der Bundeswehr, aber vor allem fehlt es an Soldaten, und zwar dringend. Russlands Präsident Wladimir Putin lässt seine Armee neben dem Überfall auf die Ukraine zunehmend auch die Nerven der Nato-Staaten testen. Wenn etwa Kreml-Kampfjets estnisches Hoheitsgebiet überfliegen oder russische Drohnen in großer Zahl bis nach Polen kommen.
Mal eben das Vierfache
Die Nato hat reagiert und ihre Verteidigungspläne mit Blick auf Dimensionen der Truppen deutlich nach oben korrigiert. Und das setzt Deutschland unter Druck. Seit 2018 versuchte die Bundeswehr ohne Erfolg, von etwa 183.000 Soldatinnen und Soldaten auf 203.000 aufzuwachsen. Eine Task Force Personal setzte allerlei Ideen um. Man kam nicht mal in die Nähe des angepeilten Ziels. Stattdessen kamen die neuen Nato-Pläne und plötzlich hieß es, Ziel könnten nicht mehr 203.000 Truppenangehörige sein, sondern es brauche 260.000.
Mal eben das Vierfache der Ursprungsplanung und laut gleich zwei geladenen Experten in der Sitzung des Verteidigungsausschusses ist diese Zahl noch deutlich zu niedrig angesetzt. Der Wert sei „nicht schlüssig abgeleitet“, lautet einer der Kritikpunkte von Militärhistoriker Sönke Neitzel, der sich auch intensiv mit der Gegenwart beschäftigt. Einen „ersten, grob geschätzten Wert“ nennt André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, die 260.000. Sie entspreche nicht der Analyse der Nato-Planungsziele und einem daraus abgeleiteten Fähigkeitsprofil.
Wenn ranghohe deutsche Militärs hingegen den Bedarf der kommenden Jahre analysieren, kommen sie offenbar auf andere Zahlen. „Die angemeldeten Ressourcenbedarfe der Inspekteure und Befehlshaber liegen aktuell in Summe deutlich über dieser Zahl“, fasst es Wüstner vor dem Ausschuss zusammen. Und auch Neitzel sagt, der Kräftebedarf, den die Inspekteure aus den Nato-Verpflichtungen ableiten, sei „wesentlich größer“ als 260.000. Nicht gerade ein Kompliment für die anwesenden Vertreter der Regierungsparteien. Unterm Strich sagen sie Union und SPD: Ihr plant wissentlich mit falschen Zahlen.
Doch auch darüber, wie man innerhalb von zehn Jahren auf 260.000 Soldatinnen und Soldaten kommen könnte, gehen die Meinungen in der Bundesregierung weit auseinander. Im Oktober schien ein Gremium von Unions- und SPD-Politikern eine Einigung gefunden zu haben, doch die Pressekonferenz dazu wurde im letzten Moment wieder abgesagt. Der Kompromiss sah auch das eingangs erwähnte Losverfahren vor, das unter anderem Verteidigungsminister Boris Pistorius ablehnt.
Deutschland kann keine 200 U-Boot-Fahrer rekrutieren
Diese Ablehnung teilt heute vor dem Verteidigungsausschuss auch Sönke Neitzel. Mit Generalinspekteur Carsten Breuer hat Pistorius in der Debatte zudem den ranghöchsten deutschen Soldaten auf seiner Seite. Das wichtigste Argument gegen die Losentscheidung: Selbst wenn ein ganzer Jahrgang zunächst gemustert wird, sich dann zu wenige Freiwillige für den Wehrdienst entscheiden, und man nur noch das fehlende Kontingent per Losverfahren verpflichtet, bekommt die Truppe so nicht automatisch die Besten, Fittesten und Motiviertesten des Jahrgangs, sondern auch eine ganze Reihe von Pechvögeln.
Zudem kämen diese per Los Verpflichteten unabhängig davon, wo genau im System Bundeswehr gerade Verstärkung gesucht wird, und welche Fähigkeiten sie mitbringen. „Wir haben in der Fallschirmjägertruppe einen sehr hohen Deckungsbedarf, aber bei den Besatzungen der Marineschiffe einen sehr niedrigen“, erklärt Neitzel nach der Ausschusssitzung. Derzeit schaffe es Deutschland nicht, 200 U-Boot-Fahrer zu rekrutieren. „Wir haben unterschiedliche Deckungsgrößen in Norddeutschland und in Süddeutschland.“
Für die speziellen Bedürfnisse der Truppe ist ein Losverfahren aus seiner Sicht keine Antwort. Würde es in der Bundeswehr akut an IT-Experten mangeln, würde ein Losverfahren der Truppe keine IT-Experten in die Reihen spülen, sondern irgendwen. Neitzel plädiert darum auch nach Ende des Verteidigungsausschusses vehement für eine Auswahlpflicht nach schwedischem Modell. Dort wird nicht der ganze Jahrgang zum Wehrdienst eingezogen, sondern es werden diejenigen ausgewählt, die im Musterungsprozess besonders geeignet erscheinen – weil sie begehrte Fähigkeiten mitbringen und Motivation.
Das Problem dabei: Dieses Verfahren ist sehr effektiv aus der Sicht der Bundeswehr, aber nicht sehr gerecht aus Sicht der jungen Männer, die gemustert werden. André Wüstner unterstützt darum, anders als Sönke Neitzel, das Losverfahren nach Musterung. Damit könne man die körperliche Eignung der Gemusterten noch berücksichtigen, dann entscheide, „wie wir es auch in der Geschichte der Bundeswehr schon mal hatten, ein Losverfahren aus den potenziell Geeigneten“, so André Wüstner im Gespräch mit ntv.de. Jegliche Willkür würde damit ausgeschlossen. „Nicht der Geldbeutel der Eltern oder anderes entscheidet, sondern tatsächlich das Los.“ Bezogen auf Wehrgerechtigkeit und Verfassungskonformität sieht Wüstner zum Losen „aktuell keine Alternative“.
Was passiert, wenn es nicht klappt?
Die politisch sehr umstrittene Losfrage wird fast schon zum Detail, wenn eine aus Sicht beider Experten dringend notwendige Handlungsoption im Gesetz nicht verankert ist, für den Fall, dass der Plan nicht aufgeht: Es fehlt, so die Kritik von Neitzel, an einem gesetzlich festgelegten Pfad, um den Aufwuchs verlässlich zu stemmen. Um wie viele zusätzliche Soldaten muss die Bundeswehr Jahr für Jahr aufwachsen, damit 2035 das Ziel 260.000 erreicht wird? Und was passiert, wenn etwa schon 2028 deutlich wird, dass es allein mit Freiwilligen nicht klappt?
André Wüstner hält es für unerlässlich, für diesen Fall schon jetzt im Gesetz vorzusorgen, denn er geht davon aus, „dass alleine über Freiwilligkeit dieser immense Aufwuchs an Personal nicht gelingen wird“.
Was dann hilft: ein Umschaltmechanismus, der festlegt, dass in diesem Fall eine Pflichtoption in Kraft tritt. So regeln es die Schweden, und diesen Mechanismus fordert auch Neitzel vehement. Er könne ruhiger schlafen, „wenn in diesem Gesetz Umschaltmechanismen vorgesehen wären“.
Doch derzeit erscheint ein solcher Aufwuchspfad mit klaren Zwischenzielen und Konsequenzen unwahrscheinlich. Zwar spricht sich die Union dafür aus, doch die SPD und auch ihr Minister Pistorius lehnen einen Automatismus ab. Sie wollen eine Pflicht nur dann einführen, wenn der Bundestag sie zuvor beschlossen hat. Zumal das Verteidigungsministerium seine Personalplanung für die Bundeswehr erst im Frühjahr vorlegen will. Das Gesetz soll aber so schnell wie möglich verabschiedet werden. Für Neitzel „völlig absurd“, dass das Ministerium bis zum Frühjahr brauche, denn die Nato-Ziele seien lange bekannt. „Das sind 3000 Dienstposten, was machen die denn den ganzen Tag?“
Während die Experten im Verteidigungsausschuss mit Verve eine Meinung vertreten, die den Gesetzesplänen widerspricht, wird hinter den Kulissen seit Tagen verhandelt und gerungen. Aktuell heißt es aus Regierungskreisen, noch in dieser Woche werde eine Einigung verkündet. Aus Sicht von Wüstner und Neitzel wird sie weiterhin auf zu niedrigen Bedarfszahlen basieren. Der Historiker wäre schon froh, wenn der Aufwuchspfad es ins Gesetz schaffen würde. „Wenn festgelegt würde: Falls nicht genug Freiwillige kommen, die passenden Freiwilligen für die passenden Verbände, dann greift eine Auswahlpflicht – das wäre ein echter Teilerfolg.“