Nazi-Verbrechen auf Alderney Das vergessene Konzentrationslager im Ärmelkanal
02.08.2023, 15:11 Uhr Artikel anhören
Die Kanalinsel Alderney ist nur knapp acht Quadratkilometer groß, das entspricht der Größe von Wangerooge.
(Foto: picture alliance / imageBROKER)
Auf der Insel Alderney im Ärmelkanal bauen die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg ein Konzentrations- und mehrere Arbeitslager. Mindestens 700 Häftlinge werden getötet. Über das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen schweigt sich die britische Regierung jahrzehntelang aus. Das soll sich ändern.
Das "Lager Sylt" ist ein fast vergessener Abschnitt auf der langen Liste der Nazi-Verbrechen. Ein Konzentrationslager auf einer Insel. Nicht auf Sylt, wie der Name vermuten lässt, sondern auf Alderney. Die sechs mal zwei Kilometer kleine Insel liegt im Ärmelkanal, näher an Frankreich als an Großbritannien - ist aber bis heute der britischen Krone unterstellt. 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, besetzte Nazi-Deutschland die Insel. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon komplett leer: Die britische Regierung um Premierminister Winston Churchill hatte die Inselbewohner evakuiert und Alderney kampflos den Nazis überlassen.
Das nutzte der Angreifer. Nazi-Deutschland baute ein Konzentrations- und drei Arbeitslager auf Alderney. Im KZ, dem "Lager Sylt", waren ab 1943 mindestens 1000 Häftlinge untergebracht, etwas mehr als ein Jahr lang. Das KZ-Außenlager unterstand dem KZ Neuengamme bei Hamburg. Auch 3000 Zwangsarbeiter wurden auf die Insel gebracht. Sie schufteten in den Arbeitslagern, die die Nazis ebenfalls nach deutschen Nordseeinseln benannten: Borkum, Helgoland und Norderney.
"Maschinerie des Todes"
"Auf Alderney fand eine Ausrottung durch Arbeit statt", hat der Historiker Marcus Roberts im britischen Fernsehen bei ITV erzählt und bezieht sich damit auf einen Bericht des britischen Militärgeheimdienstes, der 1945 unmittelbar nach Weltkriegsende die Vorgänge auf Alderney untersucht hatte. Eigentlich sollte die Dokumentation für exakt 100 Jahre unter Verschluss bleiben, doch 2021 wurde eine Kopie des Berichts geleakt. "Es wird sehr deutlich über die Maschinerie des Todes auf der Insel berichtet", so Roberts. Die Gefangenen auf Alderney wurden durch die harte Arbeit systematisch getötet. Andere starben durch Giftspritzen, Folterungen oder Erschießungen.
Konkreteres ist aber immer noch nicht bekannt über die Nazi-Verbrechen auf Alderney. Mittlerweile sind 80 Jahre seit der Errichtung von KZ und Arbeitslagern auf der Insel vergangen. 80 Jahre, in denen erstaunlich wenige Details der Nazi-Verbrechen auf der Insel aufgeklärt wurden. Die britische Regierung will das jetzt ändern und endlich das ganze Ausmaß der Schreckensherrschaft auf Alderney ans Licht bringen.
Anhaltspunkte kann das Gremium beim Forscherteam um die Archäologin Caroline Sturdy Colls finden. Die Professorin der Staffordshire Universität hat Alderney mit ihren Kollegen fast zehn Jahre lang akribisch untersucht. Dabei hat sie historische Luftaufnahmen und alte Aufzeichnungen genutzt, aber auch neueste Methoden wie invasive Vermessungstechniken und Bodenradar.
Das Team hat herausgefunden, dass jeder Gefangene im Bestfall gerade mal anderthalb Quadratmeter Platz zur Verfügung hatte. Das Forscherteam erstellte zudem ein 3D-Modell von einem Tunnel, das vom Haus des Nazikommandanten auf das KZ-Gelände führte. Die Erkenntnisse ihrer Arbeit fasste Colls in ihrem Buch "Adolf Island" zusammen, das 2022 veröffentlicht wurde.
Zwei Massengräber entdeckt
Eine große Unbekannte sind die Totenzahlen: Der Unterschied zwischen den Schätzungen sei immens, hat der britische Holocaust-Beauftragte, Lord Eric Pickles, dem "Observer" gesagt. "Ich halte es für vernünftig, dass jeder die Fakten auf den Tisch legt, dass alle Überlegungen öffentlich gemacht werden. Es erscheint mir sinnlos, dass sich die Leute gegenseitig anschreien." Deshalb will Pickles noch in diesem Sommer ein Gremium internationaler Experten zusammenbringen.

Ein Bunker wie dieser ist eines von wenigen Kriegsrelikten auf der Kanalinsel Alderney.
(Foto: IMAGO/F. Anthea Schaap)
Die Archäologin Colls schreibt, dass mindestens 701 Menschen auf der Insel getötet worden sind. "Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass diese Zahl auf mindestens 986 erhöht werden muss, da wir mehrere Zeugen haben, die von mehreren Massenexekutionen sprechen, die auf der Insel stattgefunden haben", hat die Forscherin voriges Jahr bei einer Veranstaltung der Wiener Holocaust Library berichtet.
Mittlerweile gehen selbst die vorsichtigsten Wissenschaftler von mindestens 700 bis 1000 Toten aus. Einige sprechen von sogar von mehreren Tausend Opfern und vermutet weitere Massengräber auf der Insel. Zwei haben Colls und ihr Team schon entdeckt. Es könnte noch viel mehr geben.
Das Expertengremium soll aber nicht nur die Totenzahlen aufklären. Es soll auch die Frage beantworten, warum Großbritannien einen Massenmord auf der Kanalinsel jahrzehntelang nicht aufgearbeitet hat. Oder absichtlich vertuscht hat, wie Historiker Roberts der Regierung vorwirft.
Kommandant lebte unbehelligt in Deutschland
Niemand wurde jemals für die Gräueltaten auf Alderney angeklagt, der offizielle Geheimdienstbericht wurde zum Staatsgeheimnis. Nur die Sowjetunion bekam ihn zugeschickt. Weil Russen angeblich die einzigen Opfer auf der Insel waren.
Archäologin Caroline Sturdy Colls sagt, die britische Regierung habe jahrzehntelang versucht, Informationen zu verstecken. Offenbar auch, weil Landsleute nicht ganz unbeteiligt waren: Britische Bewohner der Kanalinseln Jersey, Guernsey und Alderney sollen mit den Nazis zusammengearbeitet haben.
Der Journalist deckte auch auf, dass der deutsche Kommandant von Alderney, Carl Hoffmann, nach Kriegsende trotz seiner Verbrechen nicht an die Sowjets übergeben wurde, wie von den Briten behauptet. Stattdessen war er bis 1948 in Großbritannien in Haft und durfte dann nach Deutschland zurückkehren, wo er bis zu seinem Tod in den 1970er Jahren lebte. Auch Hoffmanns Stellvertreter Kurt Klebeck wurde nie angeklagt und hielt sich stattdessen unbehelligt in Deutschland auf.
"Viel zu lange hat man einfach weggesehen", sagt Historiker Marcus Roberts im "Observer" und hofft, dass die angekündigte Untersuchung "endlich Antworten und Gerechtigkeit für die Opfer bringen wird."
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
Alle Folgen finden Sie in der ntv-App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Quelle: ntv.de