Erster digitaler Parteitag Die Grünen streamen gegen die Krise an
02.05.2020, 22:16 Uhr
In kaum drei Monaten haben sie laut Umfragen zehn Prozentpunkte an Zustimmung eingebüßt: Keine Partei leidet in ihrem Standing so sehr unter der Coronavirus-Krise wie die Grünen. Ein Parteitag soll sie wieder in die Offensive bringen - erstmals tagt dabei eine große Partei digital.
Er habe sich noch auf keine Wahl so gefreut wie auf die nächste Bundestagswahl, erklärt der Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, zu Beginn des kleinen Parteitags. In der leeren Bundesgeschäftsstelle steht er allein am Rednerpult und verbreitet Optimismus. Dabei sind die Zeiten schwierig. Nur Stunden vor dem Start der digitalen Konferenz wies das RTL/ntv Trendbarometer für die Grünen 14 Prozent Unterstützung aus. Im Februar hatten sie noch satte 24 Prozent erreicht, saßen genau drauf auf der Debatte des neuen Jahrzehnts, dem Klimaschutz. Es schien nicht mehr nur möglich, sondern beinahe wahrscheinlich, dass Deutschland nach der Wahl 2021 von einer schwarz-grünen Koalition regiert werden würde.
Dann kam der März und mit den Bildern aus Bergamo verdrängte die Coronavirus-Krise jegliche Debatte zu Klimaschutz und Ökologie aus der Öffentlichkeit. Die Deutschen blicken seither darauf, was die Regierungsparteien tun, und die können bislang mit ihrer Eindämmungsstrategie eine Mehrheit überzeugen. Wo also ansetzen als Oppositionspartei, die nicht den Anschein erwecken will, mit kleinteiliger Kritik die Einmütigkeit in der Bevölkerung kaputt zu reden, die so wichtig scheint im Kampf gegen Sars-CoV-2.
Kein Wunder also, dass es die Grünen sind, die sich nun als erste Bundestagspartei auf die digitale große Bühne wagen und einen Parteitag durchführen, der ausschließlich im Internet stattfindet. Sie wollen sich positionieren in dieser Zeit, die, so wird es der Co-Parteivorsitzende Robert Habeck später in seiner Rede formulieren, "nur Gegenwart und Krise ist". Er sieht dort auch eine Tür, die sich "zur Zukunft" öffnet. Das Deutschland und das Europa nach der Krise will die Partei mitgestalten, und zwar anders als es vorher war.
Göring-Eckardt hat Rhabarberkuchen mitgebracht
Der Parteitag soll aber erstmal so viel grüne Atmosphäre ausstrahlen wie in alten Zeiten. Dafür hat sich zumindest das Personal aus der ersten Reihe in der Berliner Geschäftsstelle eingefunden: Habeck, seine Co-Vorsitzende Annalena Baerbock sowie die Fraktionschefs Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckhardt. Letztgenannte hat Rhabarberkuchen mitgebracht. Ein Hauch Normalität und Frühlingsgefühl, doch sind niemals zwei Personen gleichzeitig im Bild. Wer spricht, steht einzeln am Pult.
Dass sie die Krise nicht ernst genug nehmen, in diesen Verdacht wollen die Grünen auf keinen Fall geraten, weder auf der Ebene der Gesundheit, noch in der Wirtschaft oder im Sozialen. Davon soll auch der Leitantrag zeugen, über den die rund 100 Delegierten an diesem Samstag entscheiden werden. Zentraler Vorschlag dort: ein Konjunktur-Sofortprogramm für Deutschland, das mit etwa 100 Milliarden Euro der Wirtschaft nach der Krise einen starken Schub geben soll. "Ich hätte nie gedacht, dass wir Grüne uns mal um die Autoindustrie kümmern müssen", konstatiert Hofreiter in seiner Parteitagsrede, und man glaubt ihm, dass dieser Umstand einen Grünen verstören muss. Aber bei Arbeitsplätzen für eine Million Menschen sieht der Fraktionschef gleichzeitig gute Gründe für die Staatshilfe, man müsse sie "an Bedingungen knüpfen".
Der Leitantrag schlägt ökologische Kaufanreize und finanzielle Hilfen bei der Modernisierung vor. Umweltschädliche Subventionen müssten abgebaut werden und Autos mit hohem CO2-Ausstoß stärker besteuert. Grundsätzlich heißt es zu den Wirtschaftshilfen, wenn Aktienkonzerne Dividenden auszahlten, Unternehmen Firmensitze in Steueroasen hätten oder Boni für erfolgreiches Managment auszahlten, könnten sie keine Hilfe vom Staat erwarten. "Wir reichen den Unternehmen die Hand zur Rettung, aber wenn sie sie ergreifen, besiegeln wir damit einen Pakt für Nachhaltigkeit", sagt Habeck. "Das Geld, das wir jetzt mobilisieren, muss unsere Wirtschaftsweise auf Klimaneutralität umbauen."
"Canan, kannst Du bitte Deine Kamera anmachen?"
Die Reden der Parteispitzen wechseln sich ab mit dreiminütigen Statements Delegierter, die ihren Antrag auf Redezeit in einen virtuellen Lostopf geworfen haben. Das macht den Parteitag technisch anfällig - "Canan, kannst Du bitte Deine Kamera anmachen?" - aber bis auf zwei Ausfälle kommen alle Redner zum Zug, vom Kreisverband Flensburg über Halle bis Neustadt-Weinstraße. Auch wenn vom Kollegen Weber bis zum Schluss nur die Stirn im Bild ist. "Wir hören und sehen Dich. Also rede einfach, alles läuft", kommt die Ermunterung aus Berlin an den verunsicherten Delegierten. Diese Redebeiträge vor dem heimischen Bildschirm sind es, die untermauern, dass die Grünen schon lange nicht mehr nur Ökopartei sind, auch wenn die Klimakrise ihnen einen solchen Boom beschert hatte. In ihren Redevideos mit Bücherregalen, Pferdegemälden oder Grünpflanzen im Hintergrund pochen sie auf europäische Solidarität, die Sicherung von Kunst und Kultur und fordern Konzepte für pandemiegerechten Schulunterricht.
Die Situation der Kinder und damit auch ihrer Familien und Alleinerziehender steht in Baerbocks Rede stark im Fokus und sie geht die Familienministerin Franziska Giffey hart dafür an, dass sie sich keinen Platz im Krisen-Kabinett der Kanzlerin erkämpft hat. Frauen trügen in der Krise die Hauptlast und würden immer unsichtbarer. Vehement verteidigt die Grünen-Chefin in der späteren Debatte um Änderungsanträge die Vor-Ort-Gutscheine für Kauf im Einzelhandel, die Innenstädte und das Geschäft der kleinen lokalen Händler beleben sollen.
"Fast die FDP noch kritischer"
Trotz der technischen Verzögerungen und dem fehlenden Faktor Publikum als Stimmungsmacher kommt nach und nach auch die Streitlust unter den Delegierten durch. So gibt es nicht nur Kritik am Titel des Leitantrags "Eindämmung, Erholung und Erneuerung", der aus Sicht der Delegierten Spallek "zu nüchtern, zu mutlos, zu visionslos" sei. Ihr Parteigenosse Janisch wundert sich, als er endlich zu hören ist, über die Kritiklosigkeit seiner Partei. Sie nehme unhinterfragt medizinische Einordnungen an, verlasse sich auf wenige Wissenschaftler und stelle nichts in Frage. Da scheine ihm "fast die FDP noch kritischer".
"Wir müssen dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem standhält", hat jedoch Baerbock bereits in ihrer Eingangsrede als Linie festgelegt. Forderungen nach weiteren Lockerungen gibt es nicht, sondern Kritik am zersparten Gesundheitssystem. "Das Prinzip Billigkeit ist ans Ende gekommen", erklärt Habeck und sinniert, wer gedacht hätte, dass man einmal den Fleiß derer brauche, die noch eine Nähmaschine bedienen können, weil man anders nicht an Schutzmasken käme.
Mit einiger Verspätung kommen die Grünen schließlich bei der Schlussabstimmung an. Der Leitantrag geht durch, mit 84 Ja-Stimmen von 86 Delegierten. Am Ende resümiert Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, es habe sich wirklich wie ein Parteitag angefühlt und zeigt sich erleichtert, dass die Grünen diese Möglichkeit gefunden haben, verbindliche Beschlüsse zu treffen. Gemeinsam mit den maskierten Vorsitzenden applaudiert er den Teilnehmern. Und dann sind - in einer letzten Kachelansicht - endlich die vielen Zugeschalteten zuhause zu sehen, die aus Flensburg, Halle oder Neustadt-Weinstraße winken und bisher ihre Kamera ausschalten mussten, um die Leitung nicht zu überlasten. "Das war saugeiles großes Kino", sagt irgendeine, die offenbar nicht nur die Kamera, sondern auch das Mikro aktiviert hatte.
Quelle: ntv.de