Politik

Ein Jahr nach Brand von Moria "Die Leute leben hier wie im Knast"

Das Warten setzt den Menschen zu.

Das Warten setzt den Menschen zu.

(Foto: imago images/ANE Edition)

In der Nacht auf den 9. September 2020 ging Moria in Flammen auf. Das Flüchtlingslager, in dem 12.000 Menschen zusammengepfercht gelebt hatten, ohne funktionierendes Abwassersystem, ohne Müllentsorgung in teils unerträglichem Gestank, wurde zum Symbol für Zustände, die die Europäische Union auf ihrem eigenen Boden nicht mehr hinnehmen wollte. Als es niedergebrannt war, hieß es "No more Morias" aus der EU-Kommission. Das Verfahren sollte eine neue Struktur bekommen, an einem Küstenstreifen wurde das Übergangslager Kara Tepe II eingerichtet. Der brasilianische Arzt Augusto Cezar Meneguim leitet dort die medizinische Versorgung von Ärzte ohne Grenzen.

ntv.de: Wie viele Menschen sind derzeit in Kara Tepe II?

Augusto Cezar Meneguim: Hier im Camp sind 3700 Geflüchtete untergebracht. Etwa 60 Prozent davon stammen aus Afghanistan, darüber hinaus leben viele hier, die aus dem Kongo geflohen sind, Somalier, Syrer und Menschen aus weiteren Nationen. Sie sind in Zelten, teilweise auch in Containern untergebracht und ihr Überleben wird gesichert, das ist das Niveau der Hilfe hier. Sie bekommen einfachste Nahrungsmittel zugeteilt, sie haben die Möglichkeit an bestimmten Tagen zu duschen, aber für all das müssen sie oft lange anstehen und warten. Kochmöglichkeiten gibt es in den Unterkünften nicht, um weitere Brände zu verhindern, aber manche versuchen, sich etwas zu improvisieren.

Sind die Zustände besser als in den Jahren von Moria?

Ich habe Moria nicht selbst erlebt und kann darum schwer vergleichen. Was ich sagen kann: Hier in Kara Tepe II leben die Leute wie im Knast.

Sie sind eingesperrt?

Das Lager ist eingezäunt, das Eingangstor bewacht. Unsere beiden Gesundheitsstationen sind außerhalb, eins vor dem Tor, das zweite in der Stadt Mytilene. Damit die Leute zu uns kommen können, müssen sie bei der Lager-Verwaltung eine Erlaubnis beantragen. Ansonsten gibt es für die Leute feste Zeiten, in denen sie ein, zwei Stunden Ausgang haben, zwei Mal pro Woche. Zu anderen Zeiten herrschen Ausgangssperren.

Fühlen sich die Leute auch wie im Knast?

Dass die Menschen sich hier nicht frei bewegen dürfen, belastet viele. Und zusätzlich zu diesem Zaun, dem Dreck, dem fehlenden Schutz vor der Hitze im Sommer und der Kälte im Winter kommt dann, und das ist vielleicht das Schlimmste: das Warten.

Wie geht es den Kindern?

Ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner in Kara Tepe sind Kinder, also etwa 1200. Davon sind über die Hälfte kleine Kinder unter 12 Jahren. Mehr als 100 Kinder sind ohne Angehörige hier und auf sich allein gestellt. Bei vielen Kindern sehen wir Störungen in der Entwicklung, manche werden aggressiv, andere ziehen sich total zurück. Kinder zeigen Wahrnehmungsstörungen, manche nässen ein, andere werden von ihren traumatisierten Eltern abgelehnt. Ohne Absicht, die Eltern wollen das nicht, aber sie können einfach für das Kind nichts mehr fühlen.

Können Sie diesen Menschen helfen?

Wir versuchen es zumindest, darum bilden wir Teams, in denen Psychologen, Krankenpfleger und Fall-Manager zusammen arbeiten. Denn viele kommen zu uns, weil sie psychisch wirklich am Boden sind. Sie hatten traumatische Erlebnisse, die sie verfolgen, sie fallen in Depressionen, Psychosen, verletzen sich selbst oder versuchen, sich das Leben zu nehmen. Da versuchen unsere Psychologen zu unterstützen, und die Fall-Manager kümmern sich um die konkrete Situation. Denn wer in dieser Verfassung in einer Anhörung zu seinem Asylantrag Stellung nehmen muss, der hat schon fast verloren.

Sie erwähnten eben, dass das Warten so furchtbar sei. Gibt es etwas, worauf es sich lohnt hier zu warten?

Die Zahl der Lagerbewohner ist ja deutlich kleiner als noch vor einem Jahr in Moria. Insofern tut sich schon etwas und haben viele, die vor einem Jahr noch da waren, das Lager inzwischen verlassen. Bloß heißt das nicht in jedem Fall, dass sie nun eine echte Perspektive haben.

Deutschland hat knapp 2800 Menschen aufgenommen. Aber noch immer fehlt ein europäischer Verteilschlüssel. Macht sich das bemerkbar?

Ja, eine Weiterverteilung findet fast nicht statt. Für diejenigen, deren Asylantrag von den Behörden hier genehmigt wird, bedeutet das: Ihre Unterstützung von Seiten des Lagers endet, aber es kommt nichts danach. Die meisten gehen auf das griechische Festland und landen auf der Straße.

Mit Augusto Cezar Meneguim sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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