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Cyber-Chaos der Ukraine "Die NATO weiß nicht, an wen sie sich wenden soll"

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Seit 2014 führt Russland nicht nur einen Krieg auf dem Schlachtfeld gegen die Ukraine, sondern auch im Cyberspace.

Seit 2014 führt Russland nicht nur einen Krieg auf dem Schlachtfeld gegen die Ukraine, sondern auch im Cyberspace.

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Beim Aufbau der Cyberabwehr steht die Ukraine noch am Anfang. "Diese Funktionen werden eigentlich schon mit unterschiedlichem Erfolg in den Streitkräften wahrgenommen, aber Cybertruppen als eigene Waffengattung sind noch nicht geschaffen worden", sagt der ukrainische Sicherheitsexperte Kostiantyn Korsun im Interview mit ntv.de. Er kritisiert unklare Zuständigkeiten, ausgelöst von Eitelkeiten und Korruption. Die ukrainische Armee verfüge über viele Erfahrungen, aber aufgrund fehlender Gesetze sei das System nicht zuverlässig.

ntv.de: Seit 2014 leidet die Ukraine unter massiven Cyberangriffen. Haben die Angriffe seit der Invasion zugenommen?

Kostiantyn Korsun: Ja, sowohl im Ausmaß als auch in der Komplexität. Das ist jedoch eine Schätzung, da es in der Ukraine keine Statistiken gibt, denen man voll und ganz vertrauen kann. Viele Informationen werden versteckt. Bekannt sind nur offensichtliche Vorfälle, zum Beispiel die letzten Angriffe auf den Mobilfunkanbieter Kyivstar oder das Satellitenfernseh-Unternehmen Viasat. Einige Regierungsbehörden berichten über einzelne Siege, Erfolge, abgewehrte Cyberangriffe und eigene Angriffe auf gegnerische Ziele, aber diese Daten sind nicht vollständig.

Kostiantyn Korsun ist Experte für Cybersicherheit.

Kostiantyn Korsun ist Experte für Cybersicherheit.

(Foto: privat)

Warum?

Es gibt in der Ukraine keine einzige spezialisierte Regierungsbehörde, die für Cybersicherheit zuständig ist und dementsprechend in der Lage wäre, zuverlässige Statistiken zu führen und zu veröffentlichen. Der ukrainische Sicherheitsdienst, der Staatliche Dienst für Sonderkommunikation und Informationsschutz, das Ministerium für digitale Transformation und der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat veröffentlichen unterschiedliche Daten. Diese Daten stimmen aber nicht überein und werfen daher viele Fragen über die Glaubwürdigkeit und die Quelle der Daten auf.

Soll eine solche Stelle gebildet werden?

Soviel ich weiß, nein. Denn die Konkurrenz ist groß, jeder der genannten Akteure erhebt den Anspruch, in diesem Bereich führend zu sein.

Und das steht der Bildung einer zentralen Cybersicherheitsbehörde entgegen?

Ich glaube ja. Die politischen Ambitionen und der interne Wettbewerb behindern die Entwicklung einer einheitlichen Strategie und die Bildung eines einheitlichen Gremiums erheblich. Wir sprechen schon seit Langem darüber. Vor allem seit dem Beginn des Krieges 2014.

Inwiefern wird die Ukraine durch russische Cyberangriffe beeinträchtigt?

Die massiven Angriffe haben am 24. Februar 2022 begonnen. Insbesondere gegen ukrainische Internetanbieter und Telekommunikationsbetreiber. Der Hackerangriff auf Kyivstar hatte zur Folge, dass die Menschen zu Hause ohne Kommunikation und Internet waren - eine kinetische Folge, die in der Gesellschaft sichtbar ist. Das Cyberteam von Kyivstar ist eines der stärksten in der Ukraine, aber es wurde gehackt. Das Internet entwickelt sich zum wichtigsten Kommunikationskanal der modernen Gesellschaft: Nachrichten, Post, Nachrichtenübermittlung, Handel, Geschäfte, Kommunikation mit Familie und Freunden, Arbeitstreffen, Geldbeschaffung und vieles mehr. Es umfasst auch nachrichtendienstliche Informationen, die Koordinierung militärischer Operationen, Freiwilligenarbeit und die Beeinflussung kritischer Infrastrukturen. Russland ist sich dessen bewusst und greift deshalb ständig Online-Medien und -Anbieter an.

Wie sicher ist es angesichts russischer Cyberangriffe, die staatliche Diia-App zu nutzen, in der die Ukrainer alle ihre persönlichen Dokumente elektronisch speichern?

Ich habe die Diia-App und diese Lösung im Allgemeinen schon kritisiert, bevor die Anwendung veröffentlicht wurde, denn sie ist keine ausgereifte Lösung. Es gibt viele Risiken für die persönlichen Daten der Bürgerinnen und Bürger, und während des Krieges werden diese Risiken noch verstärkt.

Gibt es Hilfe der westlichen Länder, der USA und der NATO?

Das ist schwer zu sagen, denn, wie gesagt: Wem sollten sie helfen? Die Ukraine hat nicht ein Zentrum für Cybersicherheit, sondern gleich vier staatliche Stellen. Und neben diesen gibt es noch einige andere.

Woran liegt das?

Zunächst einmal ist es ein legislatives Problem. Das ist langwieriger Prozess, der von Politik, Einschaltquoten und Populismus beeinflusst wird. Dazu kommt unser ewiges Problem der Korruption. Unsere westlichen Partner wollen helfen, aber wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Israel hat nur zwei Stellen für Cybersicherheit und kürzlich beschlossen, sie zusammenzulegen.

Warum?

Wenn es viele Leute gibt, fühlt sich niemand für irgendetwas verantwortlich. Wenn eine Stelle alle Befugnisse hat, ist sie für alle Folgen von Cyberangriffen durch den Feind verantwortlich. Wenn sie das Land nicht ausreichend schützt, wird sie bestraft.

Sie halten Israel für ein Modell, von dem die Ukraine lernen könnte?

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Israel ist ein technologisch fortschrittlicheres Land. Es ist zum Beispiel auch das einzige, dem die Amerikaner erlauben, israelische Informationssysteme in ihre F-35-Kampfflugzeuge einzubauen. Das zeigt den Stand der technologischen Entwicklung. Und da wir uns beide im Krieg befinden, ist dies ein Land, mit dem wir uns vergleichen können. Natürlich haben wir unterschiedliche Arten von Kriegen, aber dennoch ist ihr Krieg auch unser Krieg. Und sie zentralisieren die Cybersicherheit, während wir das nicht tun. Allerdings haben wir viele Experten und Erfahrungen in der Kriegsführung in großem Maßstab. Viele unserer Erfolge beruhen auf dem Enthusiasmus unserer Leute.

Mit Kostiantyn Korsun sprach Maryna Bratchyk

Quelle: ntv.de

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