Politik

Waffen für die Ukraine "Die Nazis wurden nicht von Pazifisten besiegt"

Auch die bisherige Praxis des Waffenexportes hätte Lieferungen an die Ukraine erlaubt, meint die Völkerrechtlerin Isabelle Ley.

Auch die bisherige Praxis des Waffenexportes hätte Lieferungen an die Ukraine erlaubt, meint die Völkerrechtlerin Isabelle Ley.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Dass Deutschland der Ukraine Waffen liefert, ist eine außenpolitische Wende. Heißt es - doch ist das wirklich so? Die Völkerrechtlerin Isabelle Ley, die am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg forscht, erklärt im Interview, dass der Schritt keineswegs neu ist und wieso man auch schon vor dem Einmarsch Russlands Waffen hätte liefern können.

ntv.de: Wie überrascht waren Sie über die Waffenlieferungen?

Isabelle Ley: Diese Kehrtwende kam natürlich für viele überraschend, auch für mich. Ich war zuvor sehr bedrückt darüber, dass ein demokratisches Land in Europa völkerrechtswidrig angegriffen wird und Deutschland mehr oder weniger tatenlos zuguckt. Das fand ich unerträglich. Trotzdem hat sich diese Kehrtwende, auch mit Hinblick auf die anderen von Bundeskanzler Scholz am Sonntag verkündeten Entscheidungen, in gewisser Weise lange angekündigt.

Inwiefern?

Dr. Isabelle Ley forscht am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Dr. Isabelle Ley forscht am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Seit Langem wird Deutschlands außen- und sicherheitspolitische Grundhaltung als eine Haltung "strategischer Zurückhaltung" beschrieben, was bedeutet, dass die Bundesrepublik sich bisher aus Konfliktlagen jedenfalls militärisch tendenziell herausgehalten und nur auf großen Druck der Partner militärisch beteiligt hat, mit eher geringen Beiträgen. Gleichzeitig gibt es ein Strategiedefizit in Deutschland im Sinne eines Defizits an strategischen Debatten. Die Ampelkoalition hat angekündigt, erstmals eine Sicherheitsstrategie für Deutschland vorzulegen.

Was halten Sie davon?

Das begrüße ich sehr. Es ist nach dieser Kehrtwende essenziell, diese zu erklären und zu überlegen wie sich Deutschland mittel- und langfristig sicherheits- und verteidigungspolitisch, unter anderem auch in Bezug auf Auslandseinsätze, positionieren wird. Das ganze Feld der sicherheitspolitischen Analyse hat schon lange darauf gedrungen, dass darüber mehr öffentlich gesprochen wird.

Warum?

Seit dem russischen Einmarsch auf der Krim, spätestens seit dem Brexit, der Wahl Trumps und dem Erstarken autoritärer Regime hat sich der sicherheitspolitische Kontext, in dem wir uns befinden, stark verdüstert. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland, wie von seinen Partnern lange gefordert, sich in diesen Fragen aktiv einbringt und eine verantwortungsvolle Rolle spielt. Nichtsdestotrotz bin ich von der Entscheidung, jetzt doch Waffen in die Ukraine zu liefern, nach der zuvor strikt ablehnenden Haltung dieser Bundesregierung überrascht.

Ist das wirklich so eine große Kehrtwende?

Es gab immer wieder deutsche Waffenlieferungen in Krisengebiete. Einige der ersten Waffenlieferungen nach der Wiederbewaffnung gingen Ende der 1950er-Jahre nach Israel. Deutschland hat in den vergangenen Jahren Fregatten und andere Systeme nach Ägypten geliefert, wo wir Menschenrechtsverletzungen sehen und das an der Jemen-Koalition beteiligt ist und immer wieder in bewaffnete Auseinandersetzungen mit Libyen verwickelt ist. Es wird nach Israel und in die Türkei geliefert, die in den Konflikt in Syrien involviert sind. Außerdem wurde bis zum Mord an Kashoggi Saudi-Arabien in nicht geringem Umfang unter anderem mit einer großen Zahl an Patrouillenbooten beliefert. 2014 hat die Bundesregierung bekanntlich die kurdischen Peschmerga im Irak mit Waffen ausgestattet, ebenso die afghanische Armee. Es ist also nicht das erste Mal, dass Deutschland Rüstungsgüter in ein Krisengebiet liefert. Insofern war der Grundsatz, das nicht zu tun, nicht so ehern wie das von der Außenministerin und vom Bundeskanzler dargestellt wurde.

Wie passte das denn zusammen?

Das passte natürlich nicht zusammen. Das ist ein Widerspruch, einerseits diesen Grundsatz aufzustellen und andererseits immer wieder dagegen zu verstoßen. Das wurde ja auch immer wieder kritisiert. Aber es war eben doch immer ein Stück weit unter dem Radar der ganz großen Aufmerksamkeit und der öffentlichen Debatte. Und dadurch wurde die widersprüchliche Praxis der Bundesrepublik ermöglicht.

Warum führen die Waffenlieferungen jetzt dazu, dass der Grundsatz nicht mehr gilt?

Das kann man so nicht sagen. Teil des Grundsatzes ist eine Ausnahme für Empfängerländer, die völkerrechtswidrig angegriffen werden und daher über ein Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta verfügen, wie jetzt die Ukraine. Insofern kann man streng genommen, anders als in vielen anderen Fällen, in denen die völkerrechtliche Lage häufig weniger eindeutig ist als jetzt, nicht sagen, dass von dem Grundsatz abgerückt wurde. Gleichzeitig gibt es natürlich trotzdem politisch und kommunikativ einen gewissen Widerspruch, schon weil der Bundeskanzler und die Außenministerin sich bis Ende letzter Woche auf den Grundsatz und nicht die Ausnahme berufen haben. Jetzt muss sich die Bundesregierung neu erklären.

Die Grundsätze sind als nicht vom Tisch?

Nein. Wie gesagt, stellen die jetzigen Lieferungen in die Ukraine streng genommen keine Durchbrechung dar. Vielmehr kann man sagen: Wenn Waffen irgendeinen Sinn und eine legitime Anwendung haben, dann, dass sich rechtswidrig angegriffene Staaten, deren Bürgerinnen und Bürger für ihre Souveränität und Freiheit kämpfen wollen, damit verteidigen können. Ich schätze die Ampelkoalition nicht so ein, dass sie in Zukunft vermehrt Staaten in Konfliktsituationen beliefern wird, bei denen ein solches Recht nicht vorliegt. Eher im Gegenteil, das hat die Außenministerin ja bereits zu Beginn ihrer Amtszeit bekräftigt.

Waffenlieferungen sind in diesem Fall also völkerrechtlich in Ordnung?

Ja. Das Völkerrecht geht erstmal von dem Grundsatz aus, dass alle Staaten souverän sind und dass es nach außen das Recht gibt, sich gegen völkerrechtswidrige Angriffe zu verteidigen, wie das jetzt auch für die Ukraine gilt. Um von seinem Verteidigungsrecht Gebrauch machen zu können, muss ein Staat auch Waffen produzieren oder kaufen dürfen. Im Gegenzug dürfen andere Staaten Waffen verkaufen. Dies findet eine Grenze im bewaffneten Konflikt. Eine Lieferung an den Aggressor würde sich nach dem internationalen Recht der Staatenverantwortlichkeit als völkerrechtswidrige Unterstützungshandlung eines völkerrechtswidrigen Angriffs darstellen.

Darf jede Art von Waffen geliefert werden?

Es gibt eine Reihe von Waffen, die aufgrund der Tatsache, dass ihre Wirkung sich nicht kontrollieren lässt oder schwerwiegende Verletzungen auch der Zivilbevölkerung herrufen kann, durch internationale Abkommen verboten sind, etwa Streumunition, biologische oder chemische Waffen. Den rechtswidrig angegriffenen Staat dürfen andere Staaten aus völkerrechtlicher Sicht nicht nur durch Waffenlieferungen, sondern auch mit Verteidigungshandlungen unterstützen.

Manche meinen, die Hilfe komme nun zu spät.

Auch vor dem russischen Angriff hätte ich Waffenlieferungen in die Ukraine schon für völkerrechtlich möglich gehalten. Auch wenn die russische Führung behauptete, keinen Angriff zu planen, hätte man das vertreten können, weil Russland ja zuvor bereits das ukrainische Territorium angegriffen hatte und spätestens seit den massiven Truppenaufmärschen an der Grenze auch mit Gewaltanwendung drohte und damit gegen das Gewalt- und Interventionsverbot nach Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta verstieß.

Deutschland darf also Waffen liefern. Aber sollte es auch Waffen liefern?

Das ist eine Frage der politischen Einschätzung. Diese zu beantworten bin ich als Völkerrechtlerin nicht kompetenter als andere. Meine persönliche Einschätzung war, schon bevor die Bundesregierung ihre Haltung geändert hat, dass ich es in dieser Situation sehr plausibel finde, wenn wir unserem europäischen Nachbarn, der seit Jahren für seine Demokratisierung kämpft, beistehen.

Einige sagen jetzt, man verlängere mit Waffenlieferungen nur das Leid in der Ukraine, weil sie der russischen Armee ohnehin gnadenlos unterlegen sei.

Vielleicht würde sich die Situation anders darstellen, wenn die ukrainische Armee von den NATO-Staaten besser ausgerüstet worden wäre, spätestens nachdem 2014 mit der Annexion der Krim klar war, dass Russland Pläne hat, aggressiv gegen die Ukraine vorzugehen. Das mag sein, aber spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich finde aber, dass das Erwägungen sind, die die Ukrainer selbst treffen müssen. Offensichtlich ist es ihnen wichtiger, ihr Land und ihre Freiheit nach Kräften und mit großem Mut zu verteidigen. Da wäre es ein Stück weit zynisch und auch paternalistisch zu sagen: Streckt die Waffen, ihr habt eh keine Chance. Während wir gleichzeitig Regime wie das von Al-Sisi in Ägypten mit hochwertigem Material beliefern.

Hätte Deutschland früher handeln müssen?

Der wichtigste Beitrag Deutschlands zur Vermeidung der jetzigen Situation hätte im konsequenten Herunterfahren der Gasimporte aus Russland bestanden. Diese haben dazu beigetragen, dass Russland, dessen Einnahmen zu wesentlichen Teilen aus Rohstoffexporten herrühren, überhaupt diesen Krieg finanzieren kann. Andererseits wäre es natürlich absolut zentral gewesen, wenn der Westen schon 2014 ähnlich geschlossen und konsequent das Vorgehen Russlands nicht nur verurteilt, sondern auch sanktioniert hätte wie jetzt. Vielleicht hat die lauwarme Reaktion auch des größten EU-Mitgliedstaats damals Russland signalisiert, dass es weitgehend ungeschoren in ein europäisches Nachbarland einmarschieren kann. Ich finde auch, dass die immer wieder in Anspruch genommene deutsche Geschichte hier alles andere als eindeutige Schlüsse zulässt: Die Nazis wurden nicht von Pazifisten besiegt.

Warum hatte Deutschland sich auferlegt, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, wenn es doch nicht durchgehalten wurde?

Den Grundsatz gibt es schon lange, erstmals wurde er Anfang der 1970er-Jahre unter dem damaligen Verteidigungsminister Schmidt formuliert. Es gab schon damals kritische Stimmen und Skandalisierungen der Rüstungsexportpolitik, die seit der Wiederbewaffnung in den 50er- Jahren relativ schnell an Fahrt aufgenommen hatten. Darauf reagierte die Bundesregierung damals. Man wollte Waffen nur an NATO-Staaten liefern und nicht in Krisengebiete und sie sollten nur zu Verteidigungszwecken eingesetzt werden. Diese Erklärung hat übrigens bis heute keine rechtliche Qualität. Mittlerweile gibt es noch weitere Kriterien, die den Grundsätzen zufolge in die Lieferentscheidungen einfließen sollen, zuletzt wurden diese 2019 geändert. Heute will man grundsätzlich EU- und NATO-Partner sowie die Schweiz, Australien, Neuseeland und Japan mit Waffen beliefern. Bei den übrigen Ländern, den sogenannten Drittstaaten, soll es immer eine Einzelfallentscheidung geben.

Die Ampelkoalition hat ein Gesetz zu Rüstungsexporten angekündigt. Wie könnten Kriterien für Waffenexporte aussehen?

Ich gehe davon aus, dass die bisherigen politischen Grundsätze darin in Rechtsform gegossen werden. Ideal wäre es, wenn darüber hinaus größere Eindeutigkeit geschaffen werden würde, ob und in welchen Fällen Exporte in Drittstaaten, also Staaten, die nicht Mitglied der EU oder der NATO oder diesen gleichgestellt sind, möglich sind und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen. Und wenn es über die grundsätzliche Linie der Bundesregierung in dieser Frage eine Debatte auch im Parlament geben würde. Dazu eignet sich der Erlass eines Gesetzes natürlich gut. Zudem wäre die Einführung strikterer Kontrollmöglichkeiten hilfreich: Bisher entscheidet der Bundessicherheitsrat insbesondere bei umstrittenen Drittstaatenexporten im Geheimen, ob die Ausfuhr von Rüstungsgut genehmigt werden soll oder nicht. Der Bundestag wird nur im Nachhinein über die Eckdaten der Genehmigung informiert. Eine gerichtliche Kontrolle erfolgt in der Regel nicht, ist, zugegeben, auch schwierig, weil den Entscheidungen natürlich hochpolitische außen- und sicherheitspolitische Erwägungen zugrunde liegen, die gerichtlich schwer überprüfbar sind und teilweise auch aus guten Gründen geheim gehalten werden. Trotzdem gibt es auch eindeutig rechtswidrige Genehmigungen, das muss gerichtlich kontrollierbar sein.

Mit Isabelle Ley sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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