
Deutschland liefert der Ukraine alte Strela-Raketen - und hat das Völkerrecht dabei auf seiner Seite.
(Foto: dpa)
Nach der sicherheitspolitischen Kehrtwende liefert Deutschland Waffen in ein Kriegsgebiet. Die Zustimmung dafür geht quer durch alle politischen Lager. Und es gibt auch gute Gründe dafür. Doch es kann einem auch mulmig werden.
Wieder hat die Bundesregierung Waffenlieferungen an die Ukraine angekündigt - Flugabwehrraketen aus alten DDR-Beständen sollen in das Kriegsland geliefert werden. Nach der ersten Waffenlieferung, die mittlerweile angekommen ist, führt diese Nachricht schon zu deutlich weniger Aufsehen. Und sollten nächste Woche weitere Waffen Richtung Osten geliefert werden, hören viele vielleicht nur noch mit einem Ohr hin. Für die Militärhilfe gibt es großen Rückhalt im Lande. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag von ntv heißen sie 78 Prozent gut.
Doch was bedeuten diese Waffenlieferungen? Heizen sie nicht den Konflikt noch an? Ziehen sie ihn unnötig in die Länge? Drängen diese Wladimir Putin nicht weiter in die Ecke, sodass er am Ende die NATO-Staaten angreifen könnte? Schließlich hat der russische Präsident schon mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Und war es nicht grundsätzlich eine gute Idee, Waffen nicht in Krisengebiete zu senden?
"Inzwischen ist es ein regelrechter Zeitenwende-Rausch", schreibt Frank Sauer auf Twitter, Politik-Professor an der Uni der Bundeswehr in München. "Wenig überraschend, dass einigen da mulmig wird". So mucken nun beispielsweise Teile der Grünen auf. In einem Brief an die Parteispitze fordert die "Unabhängige Grüne Linke" das Ende von Waffenlieferungen und stattdessen zu verhandeln. Kritik übte auch der Vorsitzende der Grünen Jugend Timon Dzenius im ntv.de-Interview. Auch und vor allem in der Linkspartei herrscht Unmut über den außenpolitischen Paradigmenwechsel, über den jüngst ein Streit ausgebrochen ist, wie ein Brief Gregor Gysis an Sahra Wagenknecht zeigte.
Ein neuer Kalter Krieg
Dass nun Waffen geliefert werden, folgt auf das Scheitern der diplomatischen Bemühungen gegenüber Putin. Jahrelang ließ die Bundesregierung, insbesondere Kanzlerin Angela Merkel, "den Gesprächsfaden nicht abreißen", trotz Russlands Annexion der Krim, des Krieges im Donbass, des Einmarschs in Georgien 2008 oder auch schon der Tschetschenienkriege vor 20 Jahren. Mit dem Überfall auf die Ukraine ist diese Politik endgültig vorbei, nun kehrt Deutschland zum Prinzip Abschreckung zurück. Im Bundestag kündigte Kanzler Olaf Scholz am vergangenen Sonntag an, die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro instand zu setzen und künftig mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben. Es ist nun viel von einem neuen Kalten Krieg die Rede.
Aber bedeutet Abschreckung auch, dass man Russlands Gegner mit Waffen versorgen muss? Dafür hielt Wirtschaftsminister Robert Habeck im Bundestag ein leidenschaftliches Plädoyer und argumentierte moralisch. Der Grünen-Politiker verglich den Angriff Russlands auf die Ukraine mit einer Vergewaltigung. "Wer bei einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, macht sich schuldig daran. Deswegen müssen wir handeln und müssen unsere Position so stark machen, dass wir der Ukraine helfen in dieser Stunde der militärischen Vergewaltigungsnot." Habeck sagte, er achte eine Position des unbedingten Pazifismus, aber er halte sie für falsch. "Denn schuldig werden wir trotzdem. Wir kommen mit sauberen Händen nicht da raus. Deswegen ist die Korrektur, die die Bundesregierung gemacht hat, also die Bereitschaft, Waffen zu liefern, richtig."
Habeck sagte aber auch, er wisse nicht, ob die Entscheidung "gut" sei. "Denn wer weiß schon, wie sich dieser Krieg entwickelt? Und wer weiß, ob aus dieser Entscheidung heraus nicht weitere Entscheidungen getroffen werden und wir irgendwann lauter Waffen liefern für einen dauerhaften Landkrieg in Europa. Auch das ist möglich." Habeck rief schließlich dazu auf, sich an die Seite der Menschen zu stellen, die für Freiheit und Selbstbestimmung seien.
In seinem Brief an Sahra Wagenknecht betonte auch Linken-Politiker Gysi das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und warf seiner Parteifreundin vor, dem Land lediglich die Chance zur "bedingungslosen Kapitulation" einzuräumen. Er schrieb aber auch, Deutschland solle sich aufgrund seiner Geschichte bei Waffenexporten zurückhalten, sie bestenfalls ausschließen.
Völkerrecht erlaubt diese Waffenlieferungen
Das Selbstverteidigungsrecht ist völkerrechtlich verbrieft - in Artikel 51 der UN-Charta. Danach sind Waffenlieferungen ausdrücklich erlaubt, wenn ein Land völkerrechtswidrig angegriffen wird, wie die Juristin Isabelle Ley im Gespräch mit ntv.de sagt. Sie forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Sie geht auch davon aus, dass schon die russische Drohung mit Gewalt völkerrechtswidrig war und daher Waffenlieferungen schon vor dem Einmarsch legitim gewesen wären. Sie verweist zudem darauf, dass Deutschland schon mehrmals Waffen an Staaten lieferte, die in Kriege oder Konflikte involviert waren oder sind - etwa Ägypten (Libyen, Jemen), Saudi-Arabien (Jemen), die Türkei (Syrien) und Israel. Außerdem wurden Waffen an die Kurden geliefert, die gegen die Terrormiliz IS kämpften. Das selbstauferlegte Verbot, Waffen nicht in Krisengebiete zu liefern, hatte bis heute ohnehin keine rechtliche Kraft.
Neben der moralischen und völkerrechtlichen Ebene ist die sicherheitspolitische Ebene wichtig - denn dabei geht es um die Frage, ob Waffen für die Ukraine vielleicht uns selbst schaden, weil sie Russland provozieren. Liefert man den Russen nicht einen Vorwand, die NATO anzugreifen? Dem widerspricht der Kieler Politik-Professor Joachim Krause gegenüber ntv.de. "Gerade die in der Ukraine deutlich gewordenen Schwächen der russischen Truppen und deren tiefe Verstrickung in Kämpfe geben den westlichen Staaten vorerst die Gewissheit, dass nicht noch weitere militärische Abenteuer Moskaus folgen werden." Der Krieg in der Ukraine absorbiere schon einen Großteil der Angriffsfähigkeit. Ähnlich äußerte sich die Russland-Historikerin Juliane Fürst vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im ntv.de-Interview. Auch sie glaubt, dass die NATO Putin abschrecke und er zu wenig freie Kräfte hat, um einen weiteren Angriff zu wagen.
Krause glaubt auch nicht, dass die deutschen Waffen den Konflikt bloß in die Länge zögen und damit das Leid verlängerten. Er geht im Gegenteil davon davon aus, dass diese das Leben von "unzähligen ukrainischen Zivilisten und Soldaten" retten. Einen russischen Sieg hält er keineswegs für ausgemacht. Russlands Fähigkeiten seien nicht unbegrenzt und die Militäroffensive habe viele Schwächen und Defizite der russischen Streitkräfte erkennbar werden lassen. "Vor allem aber kämpfen die ukrainischen Streitkräfte und die ukrainischen Bürger relativ erfolgreich und auf jeden Fall verbissen um ihre Freiheit. Aus dieser militärischen Lage heraus kann eine politische Konstellation entstehen, in der Russland sich doch zu einem Waffenstillstand entschließen könnte."
Oder aus Verzweiflung doch zu den Atomwaffen greift? Das gilt als unwahrscheinlich, weil die Antwort Putin auslöschen würde. Es wäre Selbstmord. Aber niemand weiß, was der russische Präsident als nächstes tun wird. Sein Wunsch, seinen Einfluss weiter nach Westen auszudehnen, sei auf jeden Fall vorhanden, sagte Historikerin Fürst. Und sie habe noch nie beobachtet, dass er in den vergangenen Jahrzehnten mal einen Schritt zurückgegangen sei oder eine Forderung abgemildert habe.
Quelle: ntv.de