Reisners Blick auf die Front "Die Russen gehen mit noch mehr Vehemenz in den Angriff"
18.12.2023, 21:29 Uhr Artikel anhören
Wenn die USA als Unterstützer wackeln, sind die Auswirkungen auch an der Front zu sehen. Für Putin ist es eine Frage der Zeit, bis der Westen in die Knie geht, sagt Oberst Markus Reisner.
ntv.de: In den Medien tauchte jüngst eine überraschende Zahl auf: Da hieß es, 95 Prozent der Waffen, die der Westen der Ukraine geliefert hat, sei noch verfügbar. Das klingt, als hätte die Ukraine vielleicht doch Ressourcen für eine Frühjahrsoffensive 2024. Ist die Zahl valide?
Markus Reisner: Ein Blick auf die öffentliche Quelle "Oryx" im Netz zeigt, dass dieser Wert leider wesentlich zu hoch angesetzt ist. Die Seite zählt sehr präzise russische und ukrainische Verluste - jedes zerstörte Fahrzeug, von dem ein Foto existiert, wird beurteilt und eingeordnet. Wenn wir uns die dortigen Zahlen ansehen, dann weist die Statistik unter anderem 28 zerstörte und beschädigte Kampfpanzer westlicher Produktion aus, also Leopard oder Challenger, daneben 90 zerstörte und beschädigte Bradley, CV90 und Marder-Kampfschützenpanzer sowie Stryker- und Sisu-Radpanzer - das sind insgesamt schon knapp 120. Dazu über 200 gepanzerte Fahrzeuge vom Typ MRAP, darunter auch sieben deutsche Dingo - all das stammt aus den westlichen Lieferungen und belegt die Verluste. Besonders schmerzlich sind die fast zu zwei Drittel verlorenen Minenräum- und Bergepanzer. Hinzu kommt die verlorene Artillerie, darunter unter anderem 75 der 155mm- Haubitzen aus US-Produktion, weitere über 80 Selbstfahrlafetten westlicher Bauart, nur um einige Zahlen zu nennen. Tatsächlich hat die Ukraine nicht alles Material verloren, aber ich schätze, dass etwa 40 Prozent des gelieferten Geräts ausgeschaltet ist. Entsprechend wären 60 Prozent einsatzbereit oder müssten instandgesetzt werden. Verfügbarkeit ist aber nicht der einzige Faktor.
Sondern?
Man bräuchte etwas, um den Russen den Blick auf die ukrainischen Bereitstellungen, auf die am Beginn einer Offensive stehenden Bewegungen zu verwehren. Ein Mittel gegen ihre Drohnen, die permanent in der Luft sind und sofort erkennen, wenn die ukrainischen Truppen in den Angriff übergehen. Ansonsten werden wir weiterhin erleben, dass mit Minen, Artillerie, Panzerabwehr-Lenkwaffen oder "First Person View"-Drohnen solche Angriffsversuche der Ukrainer sofort erstickt werden. Solange dieses Problem nicht gelöst ist, bringt es nichts, sinnlos anzugreifen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Wenigstens haben die Russen das gleiche Problem, oder?
Dieses Problem besteht auf beiden Seiten, ja. Nehmen wir als Beispiel den Kampfpanzer Challenger: Von diesem Typ wurden 14 geliefert. "Oryx" hat ein dokumentiertes Bild von einem zerstörten Fahrzeug. Das heißt, die 13 anderen müssten noch verfügbar sein. Die Ukraine setzt sie aber praktisch nicht ein, weil sie sofort zerstört werden würden. Die Russen senden hingegen rücksichtslos Welle an Welle an gepanzerten Fahrzeugen gegen die Ukrainer. Alleine bei Awdijiwka wurden bis jetzt um die 200 Gefechtsfahrzeuge zerstört. In nur wenigen Wochen.
Im Bereich Drohnen scheint die Ukraine gar nicht mit Unterstützung des Westens zu rechnen. Stattdessen gibt es wieder viel improvisierte Produktion im Hinterhof. Wird das Problem damit lösbar sein?
Die Frage sollten wir etwas weiter fassen: Wenn wir uns die letzten Tage ansehen, hat die Ukraine auf der strategischen Ebene zwei schwere Rückschläge erlitten. Zum einen: Die USA waren nicht in der Lage, notwendige Hilfsgelder durch den Kongress zu bekommen. Als zweites: Die Europäische Union will weiter unterstützen, hat aber nicht die zugesagten Ressourcen im notwendigen Umfang freigemacht. Interessant ist, welche Folgen das schon jetzt für den Kriegsverlauf hat. Wir können erkennen, dass die Ukraine basierend auf diesen beiden Niederlagen nun gezwungen ist, in die Defensive zu gehen. Das kündigen Oberbefehlshaber bereits an - etwa der Oberkommandierende der Streitkräfte in der Ostukraine, der sagt, zum Wohle der Soldaten werde es "einige harte Entscheidungen" geben. Was meint er damit? Möglicherweise sogenannte Frontbegradigungen.
Wie würden die aussehen?
Man zieht Kräfte zurück auf eine günstigere Verteidigungsposition. Die Ukraine hat erkannt, dass sie ohne die erbetenen Mittel aus dem Westen in die Defensive gehen muss und versuchen, die Zeit durchzutauchen, bis wieder Mittel zur Verfügung gestellt werden. Das ist das eine. Der zweite Punkt, fast unbeobachtet: Nach der Rückkehr von Präsident Selenskyj hat die Ukraine gesagt: Wenn der Westen offensichtlich Schwierigkeiten hat, uns Rüstungsgüter zu liefern, dann werden wir versuchen, unsere eigene Rüstungsindustrie wieder aufzubauen.
Die Ukraine hatte eine große Rüstungsindustrie bis zum Beginn des Krieges. Ist davon noch etwas vorhanden?
Die Produktionsstätten wurden durch Angriffe der russischen Streitkräfte auf die kritische Infrastruktur und auf die Objekte selbst schwer getroffen. Sie dürfen nicht vergessen, die Ukraine hat bis jetzt, und ich zitiere hier wieder Oryx, die Zahl von knapp 4.800 Kampffahrzeugen verloren. Eine gegenüber den russischen Verlusten von über 13.500 geringere, aber doch unglaublich hohe Zahl. Nun möchte man die eigene Produktion wieder hochziehen, und zwar in einer Weise, in der sie hoffentlich nachhaltig produzieren kann.
Wie könnte das aussehen?
Die Situation erinnert an Deutschland im Zweiten Weltkrieg, als die eigene Rüstungsindustrie massiv unter den alliierten Bombardements litt. Man hat damals zum Beispiel versucht, durch Dezentralisierung die Rüstung weiter aufrechtzuerhalten. 1943 und 1944 waren die Produktionszahlen dann tatsächlich höher als in den Jahren zuvor. Das sollte der Ukraine auch gelingen. Strategieentwicklung passiert immer in einem Dreiklang. Die Ukraine hat erkannt: Die Mittel, die sie bekommt, sind zu gering. Nun muss sie neue Wege beschreiten und ihr Ziel entsprechend kürzer setzen.
"Kürzer setzen" bedeutet in diesem Fall was konkret?
Sie rückt nicht grundsätzlich davon ab, die besetzten Gebiete zu befreien. Aber sie geht bis auf Weiteres von der Offensive in eine Defensive. Und mehreren Berichten zufolge ist das die Zielsetzung für das ganze nächste Jahr - eine defensive Operation zu führen und vor allem die Rüstungsindustrie aufzubauen, um dann 2025 wieder in die Offensive gehen zu können. Andere Artikel haben sogar 2026 genannt als Zeitpunkt der nächsten Offensive.
Das heißt, mittelfristig wird der Krieg so statisch weitergehen, wie wir es derzeit sehen? Womöglich die nächsten ein bis zwei Jahre?
Ja, und wenn Sie genau hinhören, dann ist das auch die russische Maßgabe. In der Jahrespressekonferenz vergangene Woche und auch bei anderen Auftritten hat Staatspräsident Putin klargemacht, dass Russland aus seiner Sicht in einer dominanten Rolle ist. Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Westen in die Knie geht.
Ist die gestrige Drohung gegen Finnland in diesem Zusammenhang zu sehen? Putin sagte, der NATO-Beitritt würde den Finnen noch Probleme machen.
Auch an diesem Gebaren erkennt man sehr gut, dass Russland sich in einer Position der Stärke sieht und sich mit Drohungen bereits über die Ukraine hinausgehend an die NATO-Staaten richtet. Putin will nun im Grenzgebiet zu Finnland einen neuen Militärbezirk aufstellen. Das zeigt sehr deutlich, dass das Zaudern im Westen vom Kreml sofort als Chance erkannt und genutzt wird. Nicht nur auf der militärisch-politischen Ebene, sondern auch operativ, auf dem Gefechtsfeld. Entlang der Front gehen die Russen nochmal mit mehr Vehemenz in den Angriff über. Ganz deutlich sieht man das zum Beispiel bei Bachmut, wo die Ukrainer das, was sie in den letzten Monaten nördlich und südlich der Stadt freigekämpft hatten, mittlerweile teils erneut verloren haben oder drohen zu verlieren.
Kurz nochmal zu den Begradigungen, die Sie erwarten. Das werden ja Rückzüge sein, das wird nach Schwäche aussehen. Aber Sie warnen davor, dass der Westen sie fehlinterpretiert als den Anfang vom Ende?
Diese Rückzüge werden nur die genauen Beobachter wahrnehmen, weil die Ukraine - wie in der Vergangenheit auch - versuchen wird, solche Niederlagen durch andere Erfolge zu überlagern. Am 20. Mai hat Russland verkündet, dass Bachmut gefallen ist. Am 21. Mai hat niemand mehr von diesem Erfolg der Russen gesprochen, sondern alle haben nach Belgorod geblickt, wo die russische Seite gezwungen war, abtrünnige Freiwillige zu bekämpfen. Die Ukraine hat den Verlust von Bachmut durch ein anderes Ereignis sehr gekonnt überspielt.
Welche anderen Möglichkeiten hat die Ukraine derzeit, um Misserfolge zu überspielen?
In Belgorod hören wir bereits von neuen Angriffen auf russischem Territorium. Die Ukraine kann aber auch mithilfe von Geheimdienstoperationen oder mit Spezialkräften Aufsehen erregende Erfolge erzielen, zum Beispiel mit einer Operation hinter den feindlichen Linien. Auch beeindruckende Angriffe wie massierte Präzisions- oder Drohnenangriffe aus der Luft haben wir in letzter Zeit mehrfach gesehen.
Wenn ein Storm Shadow Marschflugkörper ein U-Boot in einer Werft zerstört?
Ja, aber was fehlt, sind einfach Masse und Gleichzeitigkeit. Es ist spektakulär, wenn es gelingt, mit den von den USA gelieferten ATACMS einen russischen Luftwaffenstützpunkt für Hubschrauber anzugreifen. Aber das müsste dutzende Male gleichzeitig passieren, um wirklich einen massierten Effekt zu erzielen. Und der bleibt aus. Es ist eine großartige Headline, die möglicherweise etwas anderes überdeckt. Aber die Nachhaltigkeit fehlt.
Gibt es einen Ausweg?
Die Ukraine versucht, die massierten russischen Drohnenangriffe zu kopieren, welche die Russen mit iranischen Shaheds und selbst hergestellten Drohnen fliegen. Die Ukraine versucht also jetzt, auch selbst sehr billig und massenweise Drohnen zu produzieren, und die Absicht wird sicher sein, in den nächsten Wochen und Monaten jeden Tag Drohnenschwärme nach Russland fliegen zu lassen und dort einen Effekt zu erzielen.
Wären diese Drohnen auch etwas, was der Westen für die Ukraine produzieren könnte?
Das könnte man tun. Aber das Problem sind viele Lippenbekenntnisse und die bisher fehlende Erkenntnis, dass man einen Krieg nicht einfach so nebenbei führt. Das wird in diesen Tagen sehr sichtbar und sorgt für Resignation im Westen. Jetzt die Konsequenz zu ziehen und "all in" zu gehen, ist natürlich harter Tobak. Aber viele Experten, mich eingeschlossen, haben von Anfang an gesagt: "Russland und sein Wille zum Äußersten zu gehen darf nicht unterschätzt werden." Russland ist in der Lage, sich anzupassen, und setzt auf die Zeitkarte. Putin zielt genau darauf ab, dass wir, wenn ukrainische Erfolge ausbleiben, was im Verlauf eines Krieges vorkommt, die Lust verlieren, dass sich Pessimismus breit macht. Diese Stimmen im Informationsraum pickt sich Russland gezielt heraus und verstärkt sie, verschafft ihnen Breitenwirkung. Wenn wir sagen, okay, es bringt ja quasi eh nichts mehr, ist das der erste Schritt, mit dem Russland sich in Richtung Sieg bewegt. Man darf hier den psychologischen Effekt nicht vergessen. Wir lieben dramatische Geschichten mit einem guten Ende. Im Kampf David gegen Goliath liegt unsere Sympathie daher beim scheinbar Schwächeren. Wenn plötzlich der Riese gewinnt, verlieren wir schnell das Interesse.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de