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Verzweiflung vor Netanjahus Haus "Die Zeit läuft ab für die Entführten"

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Ihre Angehörigen einfach aufgeben, das kommt für Efrat Machikawa nicht infrage - mittlerweile protestieren sie und ihre Familie sogar vor dem Haus von Premier Netanjahu in Jerusalem.

Ihre Angehörigen einfach aufgeben, das kommt für Efrat Machikawa nicht infrage - mittlerweile protestieren sie und ihre Familie sogar vor dem Haus von Premier Netanjahu in Jerusalem.

(Foto: Max Borowski)

Nicht nur von außen steht Israels Regierung unter Druck, einem Waffenstillstand mit der Hamas zuzustimmen. Auch im eigenen Land demonstrieren Familienmitglieder der am 7. Oktober genommenen Geiseln dafür, ihre Angehörigen endlich freizubekommen - mit wachsender Verzweiflung jetzt sogar vor dem Haus des Premierministers.

Es weht ein für Jerusalemer Verhältnisse eisiger Wind an diesem Morgen, dank leichtem Nieselregen fühlt sich die Luft noch etwas kälter an. "Meine Finger beginnen blau anzulaufen", stellt Efrat Machikawa fest, "aber in den Tunneln in Gaza ist es noch viel kälter!" Irgendwo im Gazastreifen, wahrscheinlich in einem der vielen von der palästinensischen Hamas gegrabenen Tunnel, wird ihr Onkel Gadi Moses festgehalten, seitdem er bei dem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober verschleppt worden war, seit inzwischen 109 Tagen. Trotz Kälte und Regen demonstriert Machikawa gemeinsam mit Moses' Sohn, seiner Enkeltochter seit den frühen Morgenstunden im Jerusalemer Stadtteil Rehavia, vor dem Wohnsitz von Premierminister Benjamin Netanjahu. Das heißt, so nah die Familie und Angehörige anderer Hamas-Geiseln dem von der Polizei weiträumig abgesperrten Haus kommen.

Seit 109 Tagen setzen sich Machikawa, ihre gesamte Familie und die Angehörigen der mehr als 200 von der Hamas und anderen Terrororganisationen Verschleppten, von denen immer noch mehr als 130 in Geiselhaft sind, bei der israelischen Regierung dafür ein, der Rettung der Geiseln höchste Priorität einzuräumen. "Am Anfang waren das von den Politikern geäußerte Verständnis, die Empathie, die sie zeigten, tröstlich", sagt Machikawa. "Aber Worte reichen nicht mehr aus. Die Zeit läuft ab für die Entführten." Das gelte nicht nur für ihren fast 80-jährigen Onkel, sondern für alle Geiseln. Einige wurden bereits getötet. Das letzte Lebenszeichen von Gadi sei ein Video der Terrororganisation Islamischer Dschihad vom Dezember gewesen.

Netanjahu und andere Regierungsmitglieder haben in den vergangenen Tagen immer wieder klargemacht: Für sie hat Priorität, die Hamas möglichst vollständig militärisch zu besiegen. Auch ein Mitarbeiter des Regierungschefs, der sich den Demonstranten auf der Straße stellt, bleibt dabei: Trotz allen Mitgefühls, Israel könne und dürfe den Krieg jetzt nicht stoppen. Stimme Israel einer auch nur temporären Kampfpause zu, könnte das Militär diese anschließend aufgrund des wachsenden internationalen Drucks eventuell nicht mehr aufnehmen. Die Zerstörung der Terrorinfrastruktur im Gazastreifen bleibe dann unvollständig und Israel dauerhaft in Gefahr.

"Priorität muss doch sein, Leben zu retten"

Zum Schicksal der Verschleppten hören die Angehörigen von offizieller Seite immer wieder die gleiche Aussage: Die Regierung "tue alles, um die Geiseln nach Hause zu bringen". Doch Gadi Moses' Familie ist überzeugt: Das Ziel, die Hamas zu besiegen, und das, die Geiseln nach Hause zu bringen, können nicht gleichzeitig verfolgt werden. "Die Priorität muss doch sein, Leben zu retten", sagt Machikawa. "Man kann doch nichts über das Leben selbst stellen." Dass ihr Onkel und mehr als 100 israelische Zivilisten nach bald vier Monaten immer noch in Geiselhaft seien, zeige, dass Strategie der Regierung gescheitert sei.

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Je länger ihre Angehörigen in Geiselhaft sind, desto verzweifelter sind ihre Familien. Schon wenige Tage nach dem 7. Oktober richteten die Familien ein Protestcamp in Tel Aviv ein. Dort machen sie bis heute mit Ausstellungen, Konzerten und Demonstrationen auf das Schicksal der Terroropfer aufmerksam. "Das dringt aber offenbar nicht bis zu Bibi durch", sagt Machikawa. Weswegen sie seit gestern nun auch in Jerusalem direkt vor dem Haus Netanjahus demonstrieren. Auf dem Gehweg gegenüber den Polizeiabsperrungen haben sie ein kleines Zeltlager aufgestellt. Familienmitglieder anderer Geiseln stürmten sogar eine Anhörung in der Knesset, um Mitglieder der Regierungskoalition zur Rede zu stellen.

Glaubt sie, dass ihre Botschaft hier aus der Nähe eher bis zur Regierungsspitze durchdringt? Das wisse sie nicht, sagt Machikawa. Sie könne nicht anders, als weiter zu demonstrieren, bis ihr Onkel frei sei. Ein Hoffnungsschimmer könnte ein US-Medienbericht sein, demzufolge die israelische Regierung in vertraulichen Verhandlungen einen bis zu zweimonatigen Waffenstillstand in Betracht zieht im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln. Doch Gadi Moses' Familie bleibt skeptisch: "Das glauben wir erst, wenn wir Gadi wiedersehen", sagen sein Sohn und seine Schwiegertochter, die zu dem Gespräch dazugekommen sind, und Machikawa unisono.

Quelle: ntv.de

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