Begeht Israel Völkerrechtsbruch? "Die getöteten Zivilisten sind dann Kollateralschäden"
09.11.2023, 18:12 Uhr Artikel anhören
Vor einigen Tagen bestätigte die israelische Armee einen Angriff auf einen Krankenwagen im Norden des Gazastreifens. Israel zufolge befanden sich Hamas-Kämpfer in dem Transporter.
(Foto: picture alliance/dpa/XinHua)
Die den Gazastreifen kontrollierende Terrororganisation Hamas wirft den israelischen Streitkräften vor, bei ihren Angriffen auf Gaza bereits mehr als 10.000 Zivilisten getötet zu haben. Begeht Israel damit Kriegsverbrechen? Gezielte Angriffe auf Zivilisten sind völkerrechtlich ausnahmslos verboten. Allerdings ist nicht jeder Angriff, bei dem Zivilisten getötet oder verletzt werden, ein Völkerrechtsbruch, wie der Völkerrechtsexperte Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität Viadrina im Gespräch mit ntv.de erklärt. Vielmehr komme es auf eine komplizierte Abwägung an, die Israel zunehmend in ein Dilemma stürze.
ntv.de: Das Völkerrecht besteht aus Abkommen, auf die sich Staaten geeinigt haben. Allerdings handelt es sich bei der Hamas um keinen Staat und Israel hat einige Abmachungen nicht ratifiziert. Dazu gehört auch ein Protokoll über die Schonung der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten. Gilt das Völkerrecht vor diesem Hintergrund für die Parteien im Israel-Gaza-Krieg?
Wolff Heintschel von Heinegg: Ja. Denn das Völkerrecht besteht nicht nur aus völkerrechtlichen Verträgen, sondern auch aus dem ungeschriebenen Gewohnheitsrecht. Genau das kommt hier zum Tragen. Es schließt die Lücken, die möglicherweise entstehen, weil Israel bestimmte Verträge nicht ratifiziert hat. Das heißt, dass sich sowohl die Hamas-Kämpfer als auch die israelischen Verteidigungskräfte an das im bewaffneten Konflikt geltende Völkerrecht - das humanitäre Völkerrecht - halten müssen.
Welche Punkte des humanitären Völkerrechts hat die Hamas bisher gebrochen?
Durch die gezielten Angriffe gegen Zivilisten, die Ermordung von ganzen Familien und dem Massaker auf dem Festival begann dieser bewaffnete Konflikt bereits mit einem massiven Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Auch die Geiselnahmen sind eindeutige Kriegsverbrechen. Zudem verstößt es gegen das humanitäre Völkerrecht, wenn die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde verwenden, um Angriffe zu verhindern oder geschützte Einrichtungen wie Kliniken dafür missbrauchen.
Trotz des brutalen Vorgehens der Hamas gibt es Stimmen, die von einem "Befreiungsschlag" gegen eine völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels sprechen. Was sagt das Völkerrecht zu diesem Versuch der Rechtfertigung?
Die Frage, ob Israel eine völkerrechtswidrige Siedlungspolitik betreibt, ist ein eigenes Thema. Selbst wenn wir in diesem Zusammenhang einen Völkerrechtsbruch annehmen, wäre das für die Bewertung des 7. Oktobers aber völlig irrelevant. Alle Konfliktparteien, egal ob staatlich oder nichtstaatlich, sind immer an das humanitäre Völkerrecht gebunden. Davon wird man nicht frei, wenn man sagt, die andere Seite hat Rechtsbrüche begangen.
Israel hat nach Artikel 51 der UN-Charta ein Recht auf Selbstverteidigung. Wie lange darf es davon Gebrauch machen?
Das Selbstverteidigungsrecht endet dann, wenn die Selbstverteidigungssituation nicht mehr besteht. Das ist derzeit nicht der Fall. Zum einen feuert die Hamas weiterhin Raketen auf Israel und schickt Kämpfer über die Grenze. Zum anderen hat Israel das Recht, zu sagen, es muss hinreichend sicher sein können, dass es keine Angriffe mehr von der Hamas geben wird. Vom Selbstverteidigungsrecht strikt zu trennen ist das Recht des bewaffneten Konflikts. Der bewaffnete Konflikt endet erst dann, wenn die Parteien zu einer Einigung kommen oder wenn die bewaffneten Feindseligkeiten vollends eingestellt sind.
Die Vereinbarung eines allgemeinen Waffenstillstandes hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu allerdings ohne die Befreiung der Geiseln ausgeschlossen. Vielmehr ist das erklärte Kriegsziel die "Vernichtung" der Hamas. Ist das legitim?
Es wäre zumindest dann vom Völkerrecht gedeckt, wenn damit der bewaffnete Arm der Hamas, die Al-Kassam-Brigaden, gemeint ist. Diese Mitglieder sind aufgrund ihrer Mitgliedschaft im militärischen Flügel legitime militärische Ziele. Seit 1868 ist es außerdem ein legitimes Ziel, den Gegner zu schwächen. Das beinhaltet auch, die kämpfenden Personen anzugreifen oder festzunehmen.
Eine ehemalige Rechtsberaterin der israelischen Streitkräfte sagte zur "Washington Post", die "Grausamkeit des Hamas-Angriffs am 7. Oktober" gebe Israel nach internationalem Recht einen "größeren Spielraum", um Selbstverteidigung auszuüben. Stimmt das?
Bei solch moralisierenden Bewertungen von Kampfhandlungen muss man vorsichtig sein. Es stimmt zwar, dass sich das Maß der Selbstverteidigung an dem des bewaffneten Angriffs orientiert. Dabei geht es aber nicht um die Grausamkeit des Angriffs, sondern um die Schwere der Gewalt, die angewendet wurde. Es gelten für alle Parteien die festen Regeln für einen bewaffneten Konflikt. Dabei unterliegt Israel als Verteidiger auch keinen geringeren Rechtsbeschränkungen als der Aggressor.
Die Grundregel des Genfer Abkommens besagt, Angriffe dürfen sich nur gegen militärische Ziele richten. In Gaza verschwimmen militärische und zivile Ziele, da die Hamas Zivilisten als Schutzschilder nutzt. Begeht Israel Völkerbruch, wenn es diese Ziele angreift?
Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Grundsätzlich sind direkte Angriffe gegen Zivilpersonen nicht nur verboten, sondern auch Kriegsverbrechen. Allerdings ist es nach dem Recht des bewaffneten Konflikts nicht verboten, Zivilpersonen in Mitleidenschaft zu ziehen. Ein Beispiel: Eine Gruppe Hamas-Kämpfer versteckt sich in einem Gebäude mit ihren Familien, um Angriffe zu erschweren. Die Familien sind hier weiterhin geschützte Zivilisten. Die Hamas-Kämpfer dürfen aber trotzdem angegriffen werden, selbst wenn zu erwarten ist, dass die Familien dabei verletzt oder getötet werden. Die getöteten Zivilisten sind dann sogenannte Kollateralschäden. Der Angriff wäre nur dann verboten, wenn dieser Kollateralschaden in einem exzessiven Missverhältnis zum erwarteten militärischen Erfolg steht. Aber nur dann.
Das heißt, ob ein Angriff erlaubt ist, bei dem Zivilisten getötet werden, hängt davon ab, wie groß der militärische Nutzen ist?
Ja. Allerdings ist es eine Prognoseentscheidung. Es kommt bei der Beurteilung auf den Zeitpunkt des Angriffs an und nicht auf den der Nachbetrachtung. Der Kommandeur muss in jedem Einzelfall anhand seiner Informationen abwägen: Wie hoch wird der militärische Vorteil sein, wenn er Hamas-Tunnel, Waffendepots oder Befehlszentralen angreifen lässt und wie viel Kollateralschäden rechtfertigt das?
Das Ergebnis dieser Abwägung dürfte je nach Sichtweise sehr unterschiedlich ausfallen. Gibt es keine objektiven Maßstäbe?
Nein. Es ist nicht möglich, zu sagen, 100 getötete Zivilisten sind erträglich und ab 101 sind es zu viele. Das genau will das Völkerrecht nicht - die Entscheidung hängt von den Umständen in jeder einzelnen Situation ab. Mit anderen Worten: Eine hohe Zahl ziviler Opfer, die nicht direkt angegriffen, sondern in Mitleidenschaft gezogen worden sind, kann durchaus im Rahmen des rechtlich Gebotenen sein, wenn es ein zulässiges militärisches Ziel gibt.
Machen wir es mal konkret: War der Angriff auf einen Krankenwagen vor wenigen Tagen im Norden des Gazastreifens ein Völkerrechtsbruch? Israel zufolge befanden sich Hamas-Kämpfer in dem Transporter. Das von der Terrorgruppe Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium sagte hingegen, es seien 13 Zivilisten bei dem Angriff getötet worden.
Als Sanitätstransport ist ein Krankenwagen zunächst einmal ein besonders geschütztes Objekt und darf nicht angegriffen werden. Darüber hinaus gebietet das Völkerrecht sogar, dass die Konfliktparteien die Wagen respektieren, sie müssen sie also ihre Aufgabe weiterhin erfüllen lassen. Allerdings kann der Krankenwagen diesen Schutz auch verlieren. Und zwar dann, wenn er von der gegnerischen Konfliktpartei zum Beispiel als Truppentransporter missbraucht wird. Dann wird er zu einem zulässigen militärischen Ziel. Nun widersprechen sich die Parteien, aber wir wissen ja auch: Die Wahrheit stirbt in einem bewaffneten Konflikt als Erstes. Wir müssen in diesem Fall also die Faktenlage abwarten. Aber ich wäre derzeit vorsichtig bei der Aussage, der Angriff war schon allein deshalb völkerrechtswidrig, weil es sich um einen Krankenwagen handelte.
Wie steht es um Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Moscheen oder Jugendeinrichtungen, an denen die israelische Armee vor wenigen Tagen Raketenabschussanlagen gefunden hat?
Es ist das gleiche Prinzip. Die zivilen Einrichtungen verlieren ihren Schutz in dem Moment, wo der Gegner sieht, dass sie für militärische Zwecke missbraucht werden. Im Übrigen macht die Hamas das ja bewusst. Sie will, dass der Eindruck entsteht, dass geschützte Objekte gezielt angegriffen werden.
Können wir überhaupt bewerten, ob ein israelischer Angriff auf Gaza völkerrechtswidrig war, ohne die genauen Kenntnisse des israelischen Kommandeurs von vor dem Angriff zu haben?
Es ist aus der Distanz sehr schwierig. Bei Vorverurteilungen muss man besonders vorsichtig sein, weil wir die Faktenlage einfach nicht hinreichend kennen. Allerdings muss die Armee durchaus Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung im Gazastreifen so gut wie möglich zu schützen und den sogenannten Kollateralschaden damit möglichst zu vermeiden oder gering zu halten.
Was für Vorkehrungen können das sein?
Die Warnung an die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen, den Norden zu verlassen, ist zum Beispiel eine solche Vorkehrung. Auch das "Dachklopfen" ist eine solche Warnung. Dabei werfen die israelischen Streitkräfte explosive Vorrichtungen auf Dächer im Gazastreifen, sodass die Menschen wissen, dass sie das Gebäude verlassen müssen, weil in Kürze ein Angriff folgt. Alternativ haben die Soldaten palästinensische Zivilisten, von denen sie die Mobilfunknummer hatten, auch schon per Textnachricht gewarnt.
Diese Warnungen an Zivilisten vor Luftangriffen, ob per "Dachklopfen" oder Textnachricht, eignen sich doch aber kaum für die Bodenoffensive, sprich den Häuserkampf im Gazastreifen. Wie kann Israel in dieser Phase des Krieges sicherstellen, den Schaden für die Zivilbevölkerung möglichst klein zu halten?
Das ist äußerst schwierig, die Israelis sind tatsächlich in einem echten Dilemma. Nicht nur, weil der Gazastreifen dicht besiedelt ist, sondern auch, weil die Hamas es ihnen denkbar schwer macht, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. So hat sich auch immer wieder rausgestellt, dass die Warnungen an die palästinensische Zivilbevölkerung missbraucht wurde: Sobald die Hamas davon erfahren hat, hat sie Zivilisten teilweise unter Androhung von Gewalt gezwungen, sich in die entsprechenden Gebäude zu begeben. Damit wurde der sogenannte Kollateralschaden nicht, wie von den Israelis angestrebt, verhindert, sondern erhöht. In den Medien konnte die Hamas dann behaupten, Israel hätte wieder zahlreiche Unschuldige getötet.
Nun wird Israel auch wegen der sich anbahnenden humanitären Katastrophe im Gazastreifen Völkerrechtsbruch vorgeworfen. Die Al-Kuds-Klinik in Gaza-Stadt mahnte zum Beispiel, dass ihr bald der Treibstoff ausgehe. Inwiefern ist Israel völkerrechtlich verpflichtet, für ausreichend Nahrungsmittel, Wasser und Treibstoff in Gaza zu sorgen?
Die Versorgung der Zivilbevölkerung ist ja keine Einbahnstraße. Die Hamas regiert und kontrolliert den Gazastreifen. Damit ist sie auch verpflichtet, der Bevölkerung lebenswichtige Güter zukommen zu lassen. Stattdessen gibt es jedoch Berichte, dass die Hamas zum Beispiel Treibstoff hortet. Unter diesen Umständen kann von Israel nicht verlangt werden, Treibstoff in den Gazastreifen zu bringen. Meiner Ansicht nach kann von Israel nicht viel mehr verlangt werden als die Feuerpausen, denen sie nun zugestimmt haben, um wichtige Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen zu lassen.
Mittlerweile gibt es erste Überlegungen für die Zeit nach dem Krieg. Netanjahu hat jüngst angekündigt, dass Israel die "unbefristete" Kontrolle über Gaza übernehmen wird. Ist das völkerrechtskonform?
Zum einen ist Palästina noch kein eigener Staat. Zum anderen hat die Regierung des Gazastreifens, die Hamas, in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sie nicht in der Lage und auch nicht willens ist, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Im Gegenteil: Sie missbraucht ihre Lage für eine Vielzahl von Völkerrechtsbrüchen, auch gegenüber der eigenen Bevölkerung. Es ist daher ein legitimes Interesse Israels, insoweit die Kontrolle zu übernehmen, als dass verhindert wird, dass die Hamas wiederaufersteht und möglicherweise das nächste Massaker durchführt.
Würde das mit dem Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung kollidieren?
Auch das ist ein ganz neues Thema. Dass das palästinensische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat, kann niemand ernsthaft bestreiten. Ob das auch ein Recht auf einen eigenen Staat gibt, darüber kann man jedoch diskutieren. Die internationale Gemeinschaft befürwortet mehrheitlich die Zwei-Staaten-Lösung. Aber allein diese Befürwortung bedeutet nicht, dass Israel von jetzt auf gleich verpflichtet ist, einen palästinensischen Staat anzuerkennen.
Mit Wolff Heintschel von Heinegg sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de