Politik

Tom Segev im Interview "Was in Gaza passiert, ist eigentlich eine zweite Nakba"

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Rauch über Gaza-Stadt, vom Grenzzaun aus gesehen, den die Hamas-Terroristen am 7. Oktober durchbrachen, um Massaker in Israel anzurichten.

Rauch über Gaza-Stadt, vom Grenzzaun aus gesehen, den die Hamas-Terroristen am 7. Oktober durchbrachen, um Massaker in Israel anzurichten.

(Foto: REUTERS)

Der israelische Historiker Tom Segev beschreibt die israelische Gesellschaft als unter Schock stehend und traumatisiert. Auf den Nahost-Konflikt blickt er mit Skepsis und Pessimismus. "Wissen Sie, ich bin so skeptisch, dass ich sogar meinem eigenen Pessimismus gegenüber skeptisch bin", sagt Segev im Interview mit ntv.de. Hoffnung macht ihm manchmal die Erinnerung an den Jom-Kippur-Krieg.

ntv.de: Sie haben schon vor einigen Jahren nicht sehr optimistisch in die Zukunft geblickt, wenn es um den israelisch-palästinensischen Konflikt ging. Aber hätten Sie sich je vorstellen können, dass Israel auf eine Art überfallen wird wie am 7. Oktober?

Tom Segev: Sie meinen, dass die Hamas in Israel einfallen wird …

… und es solche Massaker gibt, ja.

Tom Segev kam 1945 in Jerusalem als Kind von Eltern zur Welt, die 1933 aus Deutschland geflohen waren. Er gehört zu den renommiertesten Historikern und Journalisten Israels.

Tom Segev kam 1945 in Jerusalem als Kind von Eltern zur Welt, die 1933 aus Deutschland geflohen waren. Er gehört zu den renommiertesten Historikern und Journalisten Israels.

(Foto: picture alliance / Robert Newald / picturedesk.com)

Es ist leider so im Nahen Osten, dass die Pessimisten meist recht haben. Das liegt in der Natur des Konflikts. Schon vor über hundert Jahren, 1919, hat David Ben Gurion vor einer Versammlung in Jaffa gesagt, dass der Konflikt zwischen Juden und Arabern nicht zu lösen sei. "Es besteht eine Kluft, und nichts kann diese Kluft auffüllen", sagte er. "Wir wollen Palästina für unsere Nation. Die Araber wollen Palästina für ihre Nation". In unseren heutigen Begriffen würde man sagen, das ist ein Konflikt zwischen zwei nationalen Identitäten: Beide Seiten definieren ihre nationale Identität durch das Land, deshalb würde jeder Kompromiss bedeuten, dass man etwas von seiner Identität aufgeben muss. Es ist, wie Ben Gurion gesagt hat: Das ist ein Konflikt, den man managen kann, aber man kann ihn nicht lösen. In den letzten einhundert Jahren hat man versucht, diesen Konflikt zu managen - manchmal besser, manchmal schlechter. Ich glaube, dass dieser Konflikt noch nie so katastrophal gemanagt worden ist wie unter Netanjahu. Netanjahu dachte, dass man die Palästinenser spalten kann - die einen in Ramallah, die anderen in Gaza, Fatah und Hamas, die hassen sich ohnehin gegenseitig. Netanjahu dachte, das sei gut für Israel. Seine Regierung und auch das Militär haben ignoriert, was sie hätten sehen müssen und sehen können: dass die Hamas Raketen anhäuft.

Aber wenn Sie mich fragen: Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es zu so grausamen Mordtaten wie am 7. Oktober kommt. Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hatten, einige der Filme zu sehen, die die Hamasniks von ihren Massakern gedreht haben - die hatten Kameras dabei, manche davon sind dort geblieben, deshalb kann man sich die Filme jetzt ansehen. Man muss wirklich eine völlig sadistische Persönlichkeit haben, um überhaupt in die Nähe dessen zu geraten, was man da sieht. Also nein, dass so etwas passiert, hätte ich nicht gedacht. Ich habe auch nicht gedacht, dass die Palästinenser eine so schlimme Zeit durchmachen müssen wie jetzt. Was gerade passiert, ist eigentlich eine zweite Nakba - das ist der arabische Ausdruck für die palästinensische Katastrophe von 1948. Eine Million Menschen wurden aus ihren Häusern gezwungen, um vom Norden des Gazastreifens in den Süden zu gehen. Es ist eine fürchterliche Situation.

Würden Sie sagen, dass die israelische Gesellschaft noch immer unter Schock steht, vielleicht sogar traumatisiert ist?

Absolut. Das ist genau der Ausdruck. Der Schock ist wirklich sehr, sehr tief. Zumal weit mehr als zweihundert Menschen seit mehr als einem Monat als Geiseln festgehalten werden - Säuglinge ohne ihre Eltern, Kinder, alte Menschen - Leute, die in den sehr friedlichen Kibbuzim gewohnt haben, zu deren Lebensphilosophie die Hoffnung auf Frieden gehört. Ich kenne eine der Geiseln, Oded Lifschiz, er war früher Journalist. In den vergangenen Jahren hat er in seinem Kibbuz eine Gruppe gegründet, deren Mitglieder regelmäßig an die Grenze zum Gazastreifen gefahren sind, um dort Menschen in Empfang zu nehmen, die sich in Israel medizinisch behandeln lassen durften. Die haben sie ins Krankenhaus gebracht und haben ihnen geholfen, sich zurechtzufinden, die richtige Abteilung zu finden und solche Dinge. Jetzt ist auch er eine Geisel. Das alles ist sehr schockierend.

Was auch schockierend ist, ist die Tatsache, dass die Hamas nach über einem Monat noch immer fähig ist, Raketen auf Israel zu schießen, bis nach Tel Aviv. Jerusalem haben auch schon welche erreicht. Meine Enkelkinder wohnen in einer kleinen Stadt namens Javne, die näher an Gaza liegt als Jerusalem. Die verbringen ganze Nächte im Keller, weil die Sirenen losgehen. Die Sirenen alleine sind schon keine angenehme Erfahrung, das klingt wie aus Filmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ja, die Menschen sind schockiert, und Netanjahu ist kein Churchill. Eine ganze Generation von Israelis ist hier aufgewachsen mit der Idee, dass so etwas nicht passieren kann. Jetzt mussten Zehntausende Israelis ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Es sind nicht eine Million wie im Gazastreifen, sondern vielleicht 200.000 Menschen aus den Orten, die an der Grenze liegen. Auch im Norden, wo jetzt auch Krieg aus Libanon droht. Auf eine solche Katastrophe war der Staat nicht vorbereitet. All diese Dinge zusammen sorgen für sehr schlechte Laune, für Bedrückung und ein tiefes Trauma.

Wie geht es Ihnen selbst? Stehen Sie auch noch unter Schock?

Ich bin auch noch unter Schock. Aber jeder findet irgendeine Betätigung, um sich abzulenken. Bei mir klingelt dauernd das Telefon, aus aller Welt will man von mir historiosophische Wahrheiten hören - tiefe Wahrheiten über die Situation und die Geschichte. Aber eigentlich stehe ich auch unter Schock. Besonders, weil ich nicht weiß, wohin dieser Krieg führt. Ich hätte gedacht, dass die Hauptaufgabe ist, die Geiseln zu befreien. Aus Sicht der Regierung ist das offenkundig nicht die Hauptaufgabe. Aber ich weiß nicht einmal genug, um die Regierung zu kritisieren. Es erscheint mir wahnsinnig, eine Stadt zu zerstören.

Wissen Sie, ich bin so skeptisch, dass ich sogar meinem eigenen Pessimismus gegenüber skeptisch bin. Deshalb sage ich mir manchmal: Der Krieg von Jom Kippur 1973, der bis heute als der schlimmste gilt, der hat schließlich zu einem Friedensvertrag mit Ägypten geführt. Als ich ein Kind war, hätte ich niemals gedacht, dass das möglich ist. Mein Vater ist 1948 im Krieg umgekommen als ich drei war, seitdem lebe ich diesen Konflikt und habe eigentlich wenig Gutes gesehen. Ja, der Friedensvertrag mit Ägypten war gut für Israel, aber schlecht für die Palästinenser. Auch der Friedensprozess mit Jordanien war gut für Israel, aber schlecht für die Palästinenser. Ägypten und Jordanien haben die Palästinenser im Stich gelassen. Man kann schon sagen, dass die Palästinenser die Waisenkinder des Nahen Ostens sind. Seit mehr als fünfzig Jahren erlaubt uns die Welt, ihre Menschenrechte zu verletzen.

Aber wenn es irgendwo auf der Welt zu Protesten wegen des Nahost-Konflikts kommt, richten die sich meist gegen Israel. Haben Sie eine Antwort auf die plumpe Frage, wer am Fortbestand des Konflikts den größeren Teil der Schuld trägt?

Ich habe keine Antwort, die die Leute, die da protestieren, interessieren kann. Ich habe nicht so viel übrig für diese Proteste. Vor einem Jahr sind in Deutschland meine Memoiren erschienen, …

… "Jerusalem Ecke Berlin", ein tolles Buch.

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Danke. Darin habe ich geschrieben, dass ich absolut fühle, dass ich einen Anteil habe an der Verantwortung für diese Tragödie. Eine historische Verantwortung - das ist etwas anderes als Schuld. Ein bisschen ist das wie in Deutschland, wo die heutigen Deutschen natürlich nicht schuldig sind an den Verbrechen der Nazis, aber eine historische Verantwortung tragen. Ich fürchte, die meisten Israelis teilen dieses Gefühl nicht. Heute sicherlich nicht. Deshalb besorgt mich die Tatsache, dass vor unseren Augen eine zweite Nakba geschieht. Aber wer schuld ist? Als Historiker und als skeptischer Mensch habe ich nicht viel übrig für absolute Antworten. Ich will wissen, was passiert ist und wie es passiert ist, aber nicht, wer schuld ist. Aber ich kann Ihnen sagen: Wenn ich ein Hamasnik wäre und jetzt zu Fuß aus dem Norden von Gaza in den Süden gehen müsste, dann hätte ich eine große Wut auf die Hamas. Der Sinwar …

Yahya Sinwar, Hamas-Chef im Gazastreifen.

… der sitzt irgendwo und sieht sich das wahrscheinlich im Fernsehen an. Wenn er sich für seine Bevölkerung interessieren würde, dann käme er jetzt aus seinem Loch und würde sagen: Schluss mit dem Krieg. Ich glaube auch, dass es gut für die Menschen in Gaza wäre, wenn die Hamas nichts mehr zu sagen hat.

Sie haben Ben Gurions Satz zitiert, dass es keine Lösung für den Konflikt zwischen Juden und Arabern gibt. Ich bin vor ein paar Tagen auf ein Zitat des britischen Außenministers Ernest Bevin gestoßen, der 1947 sagte, für die Juden sei das Wichtigste die Gründung eines jüdischen Staats - und für die Araber sei das Wichtigste, sich der Schaffung einer jüdischen Souveränität in Palästina zu widersetzen.

Das ist genau der Konflikt.

Bevin dreht es ein bisschen anders als Ben Gurion; er sagt nicht, auch die Araber wollen einen Staat, er sagt, sie wollen einen jüdischen Staat verhindern. Dann ist ein Kompromiss noch weniger möglich.

Bevin war eine merkwürdige Figur. Aber es ist auch so, dass die arabische Bevölkerung in Palästina 1947 noch kaum unter dem Einfluss nationaler Ideologien stand. Spätestens 1937 hatte die britische Regierung vorgeschlagen, das Land zu teilen. Die Zionisten waren nicht glücklich damit und die Araber lehnten den Vorschlag ab. Beide Seiten hatten das Gefühl, dass dieses Land für sie bestimmt sei. Und dann wurde es eine Notwendigkeit: 1947 sitzen in den DP-Lagern in Europa, den Lagern für "Displaced Persons", Tausende von Holocaust-Überlebenden, die kein Land aufnehmen will. Für viele von ihnen gibt es keine andere Möglichkeit, als nach Israel zu gehen. Das gilt für viele Menschen, vorher wie nachher. Auch für meine Eltern, die in den dreißiger Jahren hergekommen sind. Die wären gerne in Deutschland geblieben, aber sie mussten fliehen und haben sich hier nie zu Hause gefühlt. Das sind alles sehr komplizierte, auch menschlich komplizierte Fragen. Die einzigen, die eine klare Antwort darauf haben, sind die, die protestieren.

Netanjahu hat gesagt, er glaube, "dass Israel auf unbestimmte Zeit die Gesamtverantwortung für die Sicherheit [in Gaza] tragen wird, denn wir haben gesehen, was passiert, wenn das nicht der Fall ist".

Zunächst schlage ich Ihnen vor, kein Wort zu glauben, das Netanjahu sagt. Das Militär in Israel denkt anders. Niemand will auf längere Zeit in Gaza bleiben. Wir waren dort lang genug. Ich kann Ihnen noch ein anderes Zitat von Ben Gurion geben. 1956, kurz vor dem Suez-Krieg, als schon klar war, dass Israel den Gazastreifen erobern würde, sagte er in einer Kabinettssitzung: "Wir müssen ihn erobern. Wenn ich an ein Wunder glauben würde, würde ich mir wünschen, dass er im Meer versinkt." Bis heute ist Gaza für Israel ein Problem. Niemand will dort herrschen, niemand will, dass das Militär dort bleibt. Ich weiß nicht, was für Ideen Netanjahu hat. Ich glaube, er weiß so wenig wie irgendjemand sonst, wie das zu regeln ist, wenn der Krieg zu Ende ist. Ich glaube aber auch nicht, dass er diesen Krieg als Regierungschef übersteht.

Wer kommt dann, nach Netanjahu?

Historisch gesehen gibt es keinen Politiker, der keinen Nachfolger hat. Ich sehe im Moment aber niemanden. In früheren Kriegen kam es vor, dass der Krieg jemanden hervorbrachte, von dem die Leute sagten: Wow, den wollen wir behalten. Aber die israelische Gesellschaft ist zutiefst gespalten, es ist schon seit Jahren nicht möglich, eine stabile Regierung zu bilden. Die israelische Demokratie ist in einer Krise, wie Demokratien in der ganzen Welt - Netanjahu ist ein großer Verehrer von Viktor Orbán. Sie wissen, dass wir bis vor diesem Krieg eine große, schmerzhafte Debatte über die Grundwerte dieser Gesellschaft hatten. An jedem Wochenende gingen 200.000 Menschen auf die Straße. Vor ein paar Tagen hat Netanjahu ernsthaft behauptet, diese Demonstrationen hätten die Hamas dazu gebracht, zu glauben, dass Israel schwach sei. Diese Konflikte, diese Auseinandersetzungen über die Grundwerte der Gesellschaft, werden nach dem Krieg weitergehen. Der Krieg beendet das nicht. Aber da sind wir noch nicht. Ich fürchte, der Krieg dauert noch an. Auch wenn ich sehr hoffe, dass US-Präsident Biden Druck macht, dass es wenigstens eine Pause gibt.

Gibt es auf palästinensischer Seite jemanden, dem Sie zutrauen, ernsthafte Kompromisse mit Israel zu schließen?

Leider auch nicht. Aber da kenne ich mich nicht so gut aus. Vielleicht einer, der schon lange im Gefängnis sitzt, Marwan Barghuthi. Manchmal wird er als palästinensischer Mandela beschrieben. Aber dafür müsste er entlassen werden, und wie das gehen sollte, weiß ich nicht - Barghuthi ist wegen mehrfachen Mordes und Terrorismus zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Mit Tom Segev sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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