Panorama

"Er starb, damit ich lebe" Wie ein Israeli seine Verlobte vor einer Hamas-Granate schützte

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Irene wollte Netta im kommenden April heiraten.

Irene wollte Netta im kommenden April heiraten.

(Foto: AFP)

Netta Epstein schmiedet mit seiner Verlobten Irene Schavit Heiratspläne. Doch dann greifen Hamas-Terroristen am 7. Oktober ihr Kibbuz an. Beide fliehen in einen Schutzraum. Als die Terroristen Granaten werfen, opfert sich Netta, um Irene das Leben zu retten.

Für Irene Schavit war es Liebe auf den ersten Blick: Im April wollte die 22-jährige Israelin ihren Liebsten Netta Epstein heiraten. Das Hochzeitskleid hatte die junge Frau aus dem Kibbuz Aza schon gekauft. Doch die Zukunftspläne des jungen Paars wurden jäh zerstört, als die islamistische Hamas am 7. Oktober das Dorf im Süden Israels überfiel und Irenes 22-jährigen Verlobten auf grausame Weise tötete.

Während Irene in der Stadt Bitzaron südlich von Tel Aviv im Haus ihrer Eltern über die Ereignisse jenes alptraumhaftes Tages spricht, der ihr Leben für immer veränderte, denkt sie an die ersten Momente mit Netta zurück. Schon bei ihrer ersten Begegnung in einer Bar vor anderthalb Jahren hätten sich beide sofort zueinander hingezogen gefühlt, sagt Irene. Sowohl sie als auch Netta absolvierten damals gerade ihren Militärdienst - sie in einer Geheimdiensteinheit, er als Offizier des Fallschirmjägerregiments. Schnell war klar: Beide wollten zusammenziehen.

"Paradies aus Bäumen und Blumen"

Das Paar entschied sich für Kfar Aza als gemeinsames Zuhause. Der Kibbuz liegt nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. In der Ferne sind die Häuser der Stadt Gaza mit bloßem Auge zu erkennen. Irene beschreibt ihr Zuhause als "Paradies aus Bäumen und Blumen". Doch diese Idylle wurde am 7. Oktober nahezu ausgelöscht, als schwerbewaffnete Hamas-Terroristen in das 700-Einwohner-Dorf eindrangen und unter den Bewohnern ein Massaker anrichteten.

Neben Kfar Aza überfielen die Hamas-Kämpfer zahlreiche weitere Ortschaften im Süden Israels, wo sie wie auch bei einem Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens Hunderte Gräueltaten verübten. Insgesamt 1400 Menschen wurden nach israelischen Angaben bei dem schlimmsten Angriff auf Israel in seiner Geschichte unter grausamsten Umständen getötet, viele auch misshandelt und vergewaltigt, Leichen wurden verbrannt. Die meisten von ihnen waren Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Mehr als 240 Menschen wurden zudem an jenem Tag von der Hamas als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, darunter Babys und alte Menschen.

Friedensdrachen Richtung Gazastreifen

An den Morgen des 7. Oktober erinnert sich Irene Schavit genau. Sie, Netta und ein paar andere junge Leute wollten gemeinsam frühstücken und anschließend Drachen mit Friedensbotschaften in Richtung Gazastreifen steigen lassen. Um 06.30 Uhr wurden sie jedoch von hektisch in Rot blinkenden Alarmwarnungen aus dem Schlaf gerissen - dem in Israel nur allzu bekannten Signal für Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen. Für Irene und Netta reine Routine.

Nachdem das Paar ein beruhigendes Selfie-Foto an seine Familien verschickt hatte, zog es sich wieder in seinen zum Schlafzimmer umfunktionierten Schutzraum zurück. Bis eine kurze Textnachricht um 08.00 Uhr Irene und Netta wie auch alle anderen Kibbuzbewohner in Panik versetzte: "Abriegelung einleiten, Verdacht auf Infiltration, verstecken."

Irene und Netta schalteten das Licht aus und hielten den Atem an. Dann hörten sie die ersten Schüsse. Per SMS erfuhren sie von den ersten Opfern der Hamas, darunter auch Nettas Großmutter und Cousine. Irene Schavit erinnert sich an die in der Dunkelheit des Schutzraums unterdrückten Tränen, den tief sitzenden Schrecken und die verstörende Unsicherheit. "Niemand versteht, was draußen vor sich geht. Die Schüsse kommen näher."

"Er starb, damit ich leben konnte"

Um 11.30 Uhr hörte das Paar in seinem Wohnzimmer dann das Geräusch zersplitternder Fensterscheiben. Sie habe in diesem Moment "unbeschreibliche Angst" verspürt, sagt Irene. Dann wurde die Schlafzimmertür aufgerissen. Zwei Granaten wurden in den Raum geworfen, ein Hamas-Kämpfer schrie auf Hebräisch: "Raus! Wo seid ihr?"

Als eine dritte Granate in den Raum geworfen wurde, habe sich ihr Verlobter darauf gestürzt. "Das hat er in der Armee gelernt", sagt Irene. "Wenn eine Granate in einem geschlossenen Raum liegt, springt man darauf, um andere zu schützen." Nach der Explosion habe der Angreifer eine Salve von Schüssen auf ihren Netta abgefeuert, um sicherzugehen ihn zu töten. Danach habe er das Haus in Brand gesetzt und sei gegangen.

Sie selbst habe sich in diesem Moment damit abgefunden zu sterben, sagt Irene. Doch als klar wurde, dass die Hamas-Kämpfer fort waren, habe sie sich hervor gewagt und das Feuer gelöscht. Bis sie um 16.00 Uhr die Stimmen israelischer Soldaten hörte, habe sie auf Rettung gewartet - versteckt unter der Leiche ihres Liebsten.

"Er starb, damit ich leben konnte", sagt Irene Schavit. "Also muss ich leben." Auch wenn sie das Gefühl habe, dass sie ihn damit "verrät".

Quelle: Daphne Rousseau, AFP

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen