Politik

Blairs Ex-Berater über Johnson "Diese Regierung ist eine Lügen-Regierung"

Der britische Premier Boris Johnson hebt die Daumen in die Höhe, nachdem er Mitte März die erste Impfdosis mit dem Corona-Impfstoff von Astrazeneca erhalten hat.

Der britische Premier Boris Johnson hebt die Daumen in die Höhe, nachdem er Mitte März die erste Impfdosis mit dem Corona-Impfstoff von Astrazeneca erhalten hat.

(Foto: picture alliance/dpa/PA Wire)

Tony Blair nannte ihn sein "Genie", Politik-Berater Alastair Campbell selbst beschreibt sich als "obsessive Persönlichkeit". Im Interview spricht der 63-jährige Bestsellerautor über Lügen und Fehler der britischen Regierung, die europäische Corona-Politik und über ein Marmeladenglas als Lockdown-Strategie gegen Depressionen.

ntv.de: Manche haben im Lockdown ihr Haus renoviert, Sie haben Ihre Deutschkenntnisse aufgefrischt und wollten dieses Interview unbedingt auf Deutsch führen. Warum Deutsch?

Alastair Campbell: Es war ein Geschenk! Meine Frau hat mir als Geburtstagsgeschenk einen Kurs beim Goethe-Institut gekauft. Wir sind seit 42 Jahren zusammen. Sie dachte, dass ich nicht so sehr glücklich im Lockdown sein würde. Ich habe Deutsch und Französisch schon in der Schule und an der Universität gelernt. Mein Französisch ist fließend, mein Deutsch habe ich fast nie benutzt. Und wenn ich es versucht habe, dann sagte ich meiner Frau: Warum habe ich das vergessen? Was bin ich dumm … Ich schämte mich ein bisschen. Jetzt habe ich meinen zweiten Kurs beendet. Und mache einen dritten.

Was finden Sie denn am schwierigsten?

Die anderen Kinder in meiner Klasse sagten, Deutsch sei so hässlich. Ich habe es immer schön gefunden - und sehr kompliziert. Aber es gefällt mir, wenn es etwas Kompliziertes gibt. Man muss sich dann wirklich konzentrieren.

Ebenso kompliziert und weniger schön ist der Brexit. Sie haben für Großbritanniens Verbleib in der EU gekämpft. Schmerzt es Sie, dass die erfolgreiche Impfkampagne nun das Argument "Take back control" zu bestätigen scheint und Premierminister Boris Johnson in den Umfragen wieder steigt?

Die Geschichte des Brexits ist eine Geschichte voller Lügen, von Anfang an, wir haben eine Lügen-Regierung. Die Impfkampagne: Ja, ein Erfolg. Ich bin sehr glücklich darüber. Ich habe meine erste Dosis schon bekommen. Aber das hat nichts mit Brexit zu tun. Die Regierungen Europas hätten das genauso so machen können, wenn sie gewollt hätten. Für mich gibt es zwei Wahrheiten. Erstens: Der Brexit ist aus meiner Sicht eine Katastrophe für uns. Für die EU auch, aber mehr für uns. Und zweitens: Unsere Regierung hat in dieser Covid-Krise so viele Fehler gemacht, selbst wenn Sie den Erfolg der Impfkampagne einrechnen. Wir dürfen nie vergessen, wie Johnson am Anfang war. Wir haben diese katastrophalen Todesfälle. Es gibt jetzt kein Stadion in ganz Europa, kein Fußballstadion, kein Rugby Stadion, wo die verstorbenen Briten Platz fänden. 130.000 Tote! Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen sind sehr, sehr ernst.

Sie kennen Boris Johnson gut ...

Sehr gut. Seit mehr als 30 Jahren. Er war Journalist, als ich Journalist war. Er war Journalist, als ich in der Regierung von Tony Blair war. Und er ist jemand, der nur an sein eigenes Interesse denkt. Er ist wie Trump, ein Populist. Ja, diese Impfkampagne klappt gut, aber als Premierminister … Mir fehlen die Worte zu dieser Regierung.

Auf Englisch vielleicht?

They are hateful. Bad people. Es gibt diesen berühmten Spruch: "Woran erkennt man, dass er lügt? Seine Lippen bewegen sich." Ohne die Pandemie wäre das alles viel klarer für die Leute.

Blicken wir mal auf Brüssel: Erst verhandelt die EU-Kommission nicht so clever wie die USA, Israel und Großbritannien. Und als die Fehler bei der Impfstoffbeschaffung öffentlich werden, zeigt sie mit dem Finger auf andere - Astrazeneca, London - und zieht dabei die sensible Nordirland-Frage mit hinein.

Das hat mich auch überrascht und ich glaube, dass mit dem Nordirland-Protokoll ein Fehler gemacht wurde. Aber sie haben ihn ziemlich schnell korrigiert. Für mich ist Nordirland immer die wichtigste Frage des Brexits gewesen und ich glaube, dass es da ein Risiko gibt. Das ist die direkte Folge des Brexits und von Johnsons Lügen. Es gibt nun diese Grenze in der Irischen See. Es gibt diese Probleme und die Regierung tut so, als seien sie nicht da. Ein Albtraum. Die Regierung sagt immer: Das ist die Schuld der EU. Aber es waren die Briten, die die EU verlassen haben.

Die Brexit-Lügen sind bekannt. Aber Regierungen kommen und gehen, ein Land bleibt. Sehen Sie die Gefahr, dass auch durch die EU in den Beziehungen zu Großbritannien mehr kaputt gegangen ist, als nötig gewesen wäre?

Ich sehe beide Seiten. Michel Barnier und Merkel und andere. Sie waren mit uns so geduldig. Für Johnson geht es immer nur um seine Interessen, seine Strategie. Dafür muss er, glaube ich, eine Art Krieg mit Europa haben. Manchmal ist das Frankreich. Manchmal Brüssel. Manchmal die Deutschen in Spanien. Das ist sein Populismus.

Die letzten Wahlen hat Johnson deutlich gewonnen, viele Menschen finden ihn sympathisch. Sie sind Kommunikationsexperte: Was, glauben Sie, bleibt von der Ära Merkel: Wird das schlechte Handling der Impflogistik mehr mit ihrem Namen verknüpft sein als die Regierungsjahre davor?

Nein, das glaube ich nicht. Denn sie ist ... "she's in a separate category". Wie sagt man das auf Deutsch?

Auf einer anderen Ebene?

Ja, ich sehe Merkel auf einer anderen Ebene. 16 Jahre! Sie ist ein Phänomen. Ich finde es interessant: Wenn Merkel in der Öffentlichkeit spricht, bei Pressekonferenzen, spricht sie fast immer auf Deutsch. Wir hören die Kanzlerin durch einen Übersetzer, also kennen wir ihre Stimme nicht. Aber wir wissen, sobald wir Merkel im Fernsehen sehen, wer sie ist, was sie denkt, wie sie regiert. Das ist für mich eine erfolgreiche strategische Kommunikation. Obama spricht, und seine Stimme ist so schön, die Wörter fließen, es gibt eine Musikalität … Das hat sie nicht. Aber sie hat andere Stärken. Die vielleicht für diese Zeit noch wichtiger sind.

Sie haben sich für Ihr Buch "Winners: And how they succeed" intensiv mit der Frage beschäftigt, was Sieger-Typen ausmacht. Ob CEO oder Spitzensportler: Gibt es bei diesen Menschen eine Gemeinsamkeit?

Es gibt zumindest Themen. Zum Beispiel verstehen sie den Unterschied zwischen Strategie und Taktik. Sie hassen Niederlagen meist mehr, als sie Erfolg lieben. Sie lernen von Fehlern. Sie sind nie zufrieden. Ich nenne es die Heilige Dreifaltigkeit: Strategie, Mannschaft und Führungsqualitäten. Mein Lieblingssatz stammt vom irischen Trainer des Leichtathletik-Teams von Kenia. Er sagt: Der Gewinner ist der Verlierer, der seine Niederlage begreift.

Ihr neues Buch haben Sie im Lockdown ins Deutsche übersetzt. Es heißt "Besser leben. Wie ich gelernt habe, die Depression zu bändigen". Sie erzählen darin von Ihrer eigenen Krankengeschichte, von Ihrem Alkoholismus und davon, wie und mit wessen Hilfe Sie sich gerettet haben. Dabei spielt ein Marmeladenglas eine große Rolle. Warum?

Ich habe eine kanadische Expertin gefragt, ob Depressionen genetisch bedingt seien. Die Antwort ist Nein. Diese Expertin, auch sie depressiv, sagte stattdessen, wir müssten das Leben wie ein Marmeladenglas verstehen. Am dessen Boden, unbeweglich, sitzen unsere Gene. Der Rest des Glases ist unser Leben. Gute Erinnerungen. Schlechte Erinnerungen. Probleme sind da, aber nicht schlimm. Doch manchmal wird das Glas zu voll und explodiert. Die Expertin sagte: Wir versuchen immer, den Inhalt des Glases zu verändern. Das können wir nicht. Aber wir können das Glas größer machen.

Wie denn?

Wenn Beziehungen gut sind, ist das Glas schon viel größer. Bei mir sind das FFF: Meine Frau Fiona, Freunde und Familie. Dann die Arbeit, mit der ich Geld verdiene - aber auch die Welt verändern möchte. Schlaf, Essen, Trinken, Sport. Als ich alkoholsüchtig war - da habe ich mich nie um Schlaf oder Sport gekümmert. Jetzt muss ich gut schlafen, gut essen, nicht zu viel trinken. Und ich muss jeden Tag Sport machen. Dann sind da noch ganz persönliche Dinge in meinem Glas: Mein Fußballverein Burnley ist sehr wichtig. Nicht nur, ob er gewinnt, ob verliert. Sondern das Gemeinschaftsgefühl. Dann die Musik. Mein Dudelsack. Elvis Presley, Jacques Brel, Edith Piaf. Abba. Wenn ich dennoch deprimiert bin, helfen mir Regeln. Eine lautet: Lies Bücher, keine Zeitungen, hör Musik, keine Nachrichten.

Die Zahl psychischer Erkrankungen steigt aktuell, durch Corona, Durch den Lockdown ... Ist diese Regel auch dafür gemacht?

Ja, sicher. Ich habe anfangs immer auf dem Handy oder im Fernsehen geschaut, was passiert. Aber dann habe ich mir gesagt: Ich kann nichts daran tun. Es ist nicht gut für meine Psyche. Neugierde ist auch gut. Ich gehe nie ins Bett, ohne etwas zu lernen, was ich beim Aufwachen noch nicht wusste. Und Kreativität. Ich muss jeden Tag schreiben. Oder komponieren. Letzte Woche habe ich ein Dudelsack-Lied verfasst. Ich muss einfach jeden Tag etwas schaffen. Und dann habe ich meine Anti-Depressiva. Und meinen Arzt.

Und das Marmeladenglas.

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Wenn ich deprimiert bin, nehme ich es und sage mir: Jetzt mache ich etwas für Fiona. Etwas für meine Freunde. Hör oder spiel Musik. Lies ein Buch. Wenn ich mich gut fühle, fahre ich zwei Stunden Fahrrad oder laufe ein oder zwei Mal zehn Kilometer. Wenn ich deprimiert bin, kann ich das nicht. Aber ich kann die Treppe rauf- und runtergehen. Vier-, sechs-, zehnmal. Einfach etwas machen.

Ihre Frau hat ein Kapitel des Buchs geschrieben. Wie wichtig sind Partner und Familie für Menschen mit Depressionen?

Ich ohne Fiona - ich wüsste nicht, was passieren würde. Ich bin sehr, sehr abhängig von ihr. Als ich 1986 im Krankenhaus war, psychotisch, war ich sicher, dass sie mich verlassen würde. Warum sollte jemand mit diesem Menschen leben wollen, der verrückt ist? Der zu viel trinkt. Der keine Verantwortung für seine Probleme übernimmt. Doch meine Frau hat sich die Schuld gegeben.

Für Ihre Depression?

Ja. Und weil ich krank im Kopf war, sagte ich mir: Ja, ja, ja, sie hat recht. Ich bin gut, ich bin perfekt. Aber du, du machst mich nicht glücklich. Das ist deine Schuld. Und das ist ein Spiel, glaube ich, das zu viele spielen, wenn sie krank sind. Als wir zusammen beim Psychiater waren, hat er zu Fiona gesagt: Du darfst dir niemals die Schuld geben. Es ist sein Problem. Du kannst ihm helfen. Aber es ist schwierig und du muss etwas für dich selbst tun, wenn er deprimiert ist. Und so machen wir das. Sobald ich eine neue Depression kommen fühle, sage ich es Fiona. Und jetzt haben wir beide bessere Strategien.

Haben Sie schon einen Verlag für die deutsche Übersetzung Ihres Buchs?

Nein, aber ich hätte gern einen! Ich habe eine obsessive Persönlichkeit, wenn ich etwas erreichen möchte. Mein Deutsch verbessern, mein Buch übersetzen - und jetzt will ich es auch gedruckt sehen. Mein Berater hat es mehreren Verlagen geschickt. Die Reaktion war - ja, sehr interessant, aber ob die Deutschen wirklich wissen, wer er ist? Nein, noch nicht. Aber wenn ich das Buch veröffentliche, dann schon! Also werde ich das machen.

Viel Glück. Noch eine letzte Frage: Den Brexit hat auch Ihr Land, zumindest Teile davon, in eine Depression gestürzt. Was ist Ihr Rat? "Keep calm and carry on?"

Nein, nein, nein! Keep calm and try to change things.

Mit Alastair Campbell sprach Tanit Koch

Die komplette Fassung des Podcasts hier.

Quelle: ntv.de

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