"Operation Midas" in der UkraineDurchsuchungen bei Selenskyjs rechter Hand erschüttern Kiew
Denis Trubetskoy
Seit Wochen schon laufen in der Ukraine größere Antikorruptionsermittlungen. Nun wird die Wohnung von Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak durchsucht. Innen- und außenpolitisch stellen die Ermittlungen den Präsidenten vor erhebliche Probleme.
Angesichts der Entwicklung der letzten Wochen im politischen Kiew kam die Nachricht am frühen Freitagmorgen nicht überraschend: Das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) hat die Wohnung von Andrij Jermak durchsucht. Jermak ist der mächtige Stabschef von Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Der Vorfall markiert einen weiteren Höhepunkt im innenpolitischen Erdbeben, das die Ukraine derzeit erschüttert. Schon seit Wochen wird darüber spekuliert, ob und wieweit die Ermittlungen im Rahmen der "Operation Midas" den 54-Jährigen, der faktisch der zweitmächtigste Mann im Staat ist, belasten.
Die ersten Veröffentlichungen des NABU hatten vor allem mit mutmaßlichen Korruptionsmachenschaften im ukrainischen Energiesektor zu tun. Die Ermittlungen sollen jedoch weit darüber hinaus gehen und auch die ukrainische Verteidigungsbranche betreffen.
Bis zuletzt betonte die Antikorruptionsbehörde, sie könne weder bestätigen noch dementieren, dass der Name Jermak in den abgehörten Gesprächen vorkommt, die als Grundlage für den Korruptionsskandal dienen. Dem oppositionellen Abgeordneten Jaroslaw Schelesnjak zufolge wird Jermak darin unter anderem mit dem Decknamen "Ali-Baba" erwähnt. Dies soll allerdings nicht der einzige Spitzname Jermaks sein.
Jermak steht nicht erst seit heute unter Druck
Die letzten Tage wurden zudem von teils widersprüchlichen Medienberichten dominiert. Unter anderem hieß es, Jermak solle eine strafrechtliche Verfolgung der Chefs von Antikorruptionsbehörden angeordnet haben. Viele in Kiew vermuten, dass er es war, der im Sommer hinter dem gescheiterten Versuch stand, die Unabhängigkeit von NABU sowie der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (SAP) einzuschränken.
Die Selenskyj-kritische Wochenzeitung "Dserkalo Tyschnja" berichtete zudem, Selenskyj habe Jermak zum Delegationsleiter bei den jüngsten Gesprächen mit den USA in Genf ernannt, obwohl er von den Leitern von NABU und SAP über die Verdachtsmitteilung gegen seinen Stabschef informiert worden war. Jermak selbst reagierte am Freitagmorgen gelassen auf die Durchsuchungen in seiner Wohnung im Kiewer Regierungsviertel. Der uneingeschränkte Zugang zur Wohnung sei gewährt worden, er leiste volle Unterstützung bei den Ermittlungen, sagte er. Hinter den Kulissen steht Jermak allerdings nicht erst seit heute unter großem Druck - nicht nur aus der Opposition, auch innerhalb der Selenskyj-Partei Diener des Volkes.
Seit Jahren Selenskyjs rechte Hand
Als Jurist hatte sich Jermak ursprünglich auf das Urheberrecht spezialisiert und war viel in der Filmbranche tätig, aus der ursprünglich auch Selenskyj stammt. Dort lernten beide sich kennen, bevor Selenskyj in die Politik einstieg, auch wenn ihre Verbindung zunächst nicht eng war.
Als Selenskyj 2019 die Seiten wechselte und für die Präsidentschaft kandidierte, holte er Jermak in sein Team. Jermak ist einer der wenigen, die seither an Selenskyjs Seite geblieben sind. Allerdings stand er zunächst in der dritten Reihe, nicht unter den Hauptfiguren.
Nach Selenskyjs Amtsantritt stieg Jermaks Bedeutung rasant. Er wurde der außenpolitische Berater des neuen Präsidenten und war in dieser Rolle nicht zuletzt für schwierige Gespräche mit Russland verantwortlich - weswegen er von der Opposition von Beginn an als latent russlandfreundlich angegriffen wurde, ein Vorwurf, der sich spätestens 2022 erledigt hatte. Tatsächlich brachte Jermaks Tätigkeit einige Erfolge. So wurde im Herbst 2019 der erste Gefangenenaustausch seit Jahren durchgeführt. Im nächsten Jahr wurde Jermak zum Leiter des Präsidentenbüros befördert, seitdem ist er Selenskyjs rechte Hand.
Strippenzieher hinter dem Präsidenten
Im ukrainischen Regierungssystem haben Parlament und Regierung zwar eigentlich eine große Bedeutung. Da die Diener des Volkes aber zumindest auf dem Papier über eine absolute Mehrheit in der Werchowna Rada verfügen, werden die meisten Prozesse vom Präsidentenbüro aus geleitet.
Schon deshalb ist die von Jermak übernommene Position in der Praxis wichtiger als die des Ministerpräsidenten. Zumal Jermak auch enormen Einfluss auf die Zusammenstellung des Kabinetts hat. Ihn aber als eine Art "Schattenpräsidenten" zu bezeichnen, wie es viele in Kiew tun, wäre falsch, auch wenn er zu Recht gerade in Sachen Personalpolitik als Strippenzieher gilt. Jermak zeichnet es vielmehr aus, im Zweifelsfall die Sichtweise des Präsidenten umzusetzen, selbst wenn er mit dieser nicht einverstanden ist. Mit seinem Vorgänger im Amt, Andrij Bohdan, der tatsächlich hinter Selenskyjs Rücken die erste Geige spielen wollte, sah es anders aus.
Noch ist unklar, ob gegen Jermak belastbare Vorwürfe vorliegen. Wer sich aber mit der ukrainischen Politik auskennt, kann sich kaum vorstellen, dass er über die Machenschaften rund um Tymur Minditsch, dem Geschäftsmann und ehemaligen Selenskyj-Verbündeten, nicht zumindest Bescheid wusste.
Für Selenskyj geht es nicht nur um Jermak
In jedem Fall stellen die Ermittlungen Selenskyj vor große Probleme, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Die laute Kritik aus der Opposition kann dem Präsidenten dabei noch fast egal sein, die gab es seit Beginn seiner Amtszeit in hohem Maße. Zuletzt eskalierte aber auch die Situation in seiner eigenen Partei. Der befürchtete Aufstand in der Fraktion bei einem Treffen mit Selenskyj letzte Woche blieb zwar aus. Größere Gruppen innerhalb des Diener des Volkes sollen inzwischen jedoch der Meinung sein, Jermaks Entlassung sei der einzig sichere Weg aus der aktuellen politischen Krise.
Es ist nicht so, dass Selenskyjs Rolle als Kriegspräsident in Frage gestellt wird. Sollte wegen Jermak aber die Fraktion auseinanderbrechen, deren absolute Mehrheit schon seit Jahren nicht mehr existiert, würde das die Verhältnisse innerhalb der Werchowna Rada sowie die Struktur des faktischen ukrainischen Machtsystems radikal verändern - nicht zugunsten von Selenskyj.
Vor allem jedoch hat der Fall mitten in den zähen Verhandlungen mit den USA und vor dem erneuten Besuch des US-amerikanischen Armee-Staatsministers Dan Driscoll in Kiew eine besonders wichtige außenpolitische Komponente. Jermaks Verhandlungsqualitäten werden in der Ukraine unterschiedlich bewertet. Gerade das Team von Donald Trump soll mit seinem schlechten Englisch unzufrieden sein. Gleichzeitig ist Jermak bekannt dafür, Ergebnisse bringen zu können.
Für Selenskyj geht es aber nicht nur um Jermak. Auch Ex-Verteidigungsminister Rustem Umerow, der anders als Jermak hervorragend Englisch spricht und über gute Kontakte in die arabische Welt verfügt, ist in die Gespräche tief involviert. Umerow ist Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, auch er könnte von der "Operation Midas" betroffen sein. Diese Woche wurde er zum Verhör beim NABU eingeladen. Keinesfalls wird Selenskyj auf zwei Schlüsselfiguren im Verhandlungsprozess verzichten wollen.