Reisners Blick auf die Front "Ein Abnutzungskrieg kann jederzeit umschlagen"
08.04.2024, 18:13 Uhr Artikel anhören
Arbeiter heben in der Region Saporischschja Schützengräben aus als Teil einer neuen Befestigungslinie gegen die russischen Invasionstruppen.
(Foto: REUTERS)
Ein Abnutzungskrieg wie der in der Ukraine "folgt seinen eigenen Regeln und wird vor allem durch den Ressourceneinsatz bestimmt, nicht durch die Qualität der Waffensysteme oder die Moral der Soldaten", sagt Oberst Markus Reisner im wöchentlichen Blick auf die Front. Typisch für diese Art von Krieg sei: "Sie wirken häufig sehr statisch, aber in Wirklichkeit laufen im Hintergrund die Ressourcen-Zähler beider Seiten herunter. Bis einer auf Null steht."
ntv.de: Gab es in den vergangenen Tagen an der Front in der Ukraine überraschende Entwicklungen?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Markus Reisner: Auf der taktischen, der gefechtstechnischen Ebene sehen wir, dass die Russen weiterhin versuchen, zum Ende ihrer zweiten Winteroffensive ein Ergebnis zu erzielen. Das tun sie, indem sie an unterschiedlichen Stellen der Front massiv angreifen. Die Ukraine schafft es immer wieder, diese Angriffe zurückzuschlagen, zum Teil mit quantitativ spektakulären Abschusserfolgen. Aber auch die zeigen, wie sehr die Russen überzeugt sind, noch etwas erreichen zu können. Am intensivsten waren die Kämpfe in den letzten Tagen vor allem südlich von Kupjansk. Dort hat die Ukraine bei der Ortschaft Terny einen russischen Angriff zurückgeschlagen.
Inwiefern zeigen die Abschusserfolge der Ukraine, was die Russen sich vorgenommen haben?
Die Abwehrerfolge der Ukraine zeigen zwar, dass sie noch immer in der Lage sind, sich regional zur Wehr zu setzen. Aber die Anzahl der abgeschossenen russischen Fahrzeuge zeigt auch, dass die Russen sich hier tatsächlich etwas vorgenommen haben. Sie wollen zumindest in die zweite Verteidigungslinie der Ukraine einbrechen: westlich von Bachmut in Tschassiw Jar, westlich von Awdijiwka bei Orliwka, wo sich die vorgelagerte Verzögerungsstellung der Ukraine befindet, und in Terny westlich von Kreminna. Von dort wollen die Russen in Richtung des Flusses Oskil vorstoßen.
Hat die Ukraine denn Personal und Material, um eine russische Offensive abzuwehren?
Auf der operativen Ebene ist es so, dass die Ukraine versucht, weitere Reserven zu bilden. Hier gibt es noch keine endgültige Entscheidung, abgesehen von der Absenkung des Rekrutierungsalters von 27 auf 25 Jahre; freiwillig konnte man sich schon bisher zum Teil ab 17 melden. Armeechef Olexander Syrskyj hat klar zum Ausdruck gebracht, dass die kursierende Zahl von 500.000 neuen Soldaten aus seiner Sicht momentan nicht benötigt wird, obwohl internationale Beobachter davon sprechen, dass dies sehr wohl der Fall sei. Syrskyj sagt, jetzt werde zunächst versucht, Kräfte von den Territorialeinheiten aus der Tiefe des Landes an die Front zu verlagern.
Ein größeres Problem scheint mir die Geräteausstattung zu sein. Die Ukraine hat im vergangenen Jahr in Vorbereitung der Sommeroffensive sogenannte Brigaden der Offensive gebildet - insgesamt zwölf, neun davon wurden damals vom Westen ausgestattet. Diese Brigaden wurden bei der gescheiterten Sommeroffensive eingesetzt und dabei wesentlich abgenutzt. Jetzt versucht die Ukraine, neue Brigaden zu bilden, unter anderem die 150. bis 154. Brigade. In der vergangenen Woche musste die ukrainische Armee einräumen, dass sie nicht das Gerät hat, um diese Brigaden zu mechanisierten Brigaden zu machen, sie also mit Kampfpanzern und Schützenpanzern auszurüsten. Das werden jetzt Infanteriebrigaden - im Prinzip motorisierte Fußsoldaten. Das zeigt, wie eklatant der Mangel vor allem beim schweren Gerät ist. Längst nicht alles, was vom Westen zugesagt wurde, ist auch geliefert worden. - Soweit die operative Ebene.
Und die strategische Ebene?
Die strategische Ebene ist bestimmt von den Luftangriffen der Russen. Der Schwerpunkt der russischen Luftangriffe liegt auf Charkiw, aber auch einige Städte westlich und entlang des Dnipro sind betroffen. Russland versucht, die kritische Infrastruktur weiter zu zerstören und Fertigungsstätten anzugreifen, wo Drohnen hergestellt werden, mit denen die Ukraine versucht, in die Tiefe Russlands vorzudringen. Die Ukraine hat in den letzten Tagen spektakulär versucht, russische Militärflugplätze anzugreifen: einerseits auf Basen wie Morosowsk östlich der Ukraine, wo Russland Kampfflugzeuge vom Typ Su-34 und Su-35 stationiert hat, andererseits auch Stützpunkte wie Engels an der Wolga, das hunderte Kilometer von der Ukraine entfernt liegt, wo strategische Bomber angegriffen wurden. Allerdings zeigen Satellitenaufnahmen, dass es dort keine großen, erkennbaren Verluste gegeben hat, auch wenn der ukrainische Geheimdienst etwas anderes sagt.
Kyrylo Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, hat am Wochenende in einem Interview mit der ARD gesagt, dass die Ukraine im Frühjahr oder im Sommer mit einer neuen russischen Offensive rechnet, vor allem im Donbass. Warum dort?
Weil hier die Russen signifikante Kräfte zusammenziehen und es auf jeden Fall ihre Absicht sein wird, die Oblaste in Gänze in Besitz zu nehmen, die aus ihrer Sicht bereits russisches Territorium sind, also Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson.
Für wie gefährdet halten Sie die Stadt Charkiw?
Es gibt immer wieder Einschätzungen, dass es zu einem größeren Einsatz der Russen gegen Charkiw kommen könnte. Aber dazu müssten sie dort massive Kräftegruppierungen zusammenziehen. Im 21. Jahrhundert lässt sich so etwas nicht mehr verbergen, und bislang sehen wir das nicht. Was wir allerdings sehen, ist der Versuch der Russen, mit ihren Luftangriffen auf Charkiw den Druck bis zur Unerträglichkeit zu steigern. Das hat bereits zu einer Flüchtlingswelle geführt: Zivilisten verlassen die Stadt, weil sie weitgehend ohne Stromversorgung ist.

"Drachenzähne" in Saporischschja bilden einen Teil der hinteren Verteidigungslinie der Ukraine.
(Foto: REUTERS)
Die Nachrichtenseite Politico hat vor ein paar Tagen einen ukrainischen Offizier mit den Worten zitiert, es gebe "nichts, was der Ukraine jetzt helfen könnte, weil es keine ernsthaften Technologien gibt, die die Ukraine für die große Truppenmasse entschädigen könnten, die Russland wahrscheinlich auf uns werfen wird".
Das ist ein weiteres Beispiel für die immer prekärer werdende Lage der Ukraine. Die ukrainischen Offiziellen halten hier natürlich dagegen, weil sie nicht wollen, dass ein Narrativ entsteht, in dem es so aussieht, als sei der Kampf der Ukraine vergeblich. Aber auch in diesem Artikel fordern andere, ebenfalls namentlich nicht genannte Generäle weitere Waffen und Munition aus dem Westen. Präsident Selenskyj sagt ebenfalls, wenn der Ukraine nicht die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, dann wird sie zurückweichen müssen. Oder Außenminister Kuleba, der sehr drastisch formulierte: "Gebt uns die verdammten Patriots." In diese Richtung geht auch die Aussage des Offiziers, den Politico zitiert. Ein Abnutzungskrieg folgt seinen eigenen Regeln und wird vor allem durch den Ressourceneinsatz bestimmt, nicht durch die Qualität der Waffensysteme oder die Moral der Soldaten. Und hier ist es so, dass Russland über die letzten Monate einen deutlichen Überhang aufgebaut hat - bei der Zahl der Soldaten, aber auch bei der Artillerie, wo das Verhältnis mittlerweile bei eins zu sechs bis eins zu zehn liegt.
Sie sind Historiker und betonen immer, dass Prognosen erst rückwirkend gemacht werden können. An welche historische Situation in früheren Kriegen denken Sie bei der aktuellen Lage in der Ukraine?
Da gibt es einige Beispiele, vor allem aus Abnutzungskriegen. Hier bietet sich natürlich immer wieder der Erste Weltkrieg an, um zu zeigen, wie eine Reihe von Schlachten über lange Zeit einen scheinbar unspektakulären Verlauf nimmt, bevor es zu einer entscheidenden Wende kommt. Ein Beispiel aus der österreichischen Geschichte des Ersten Weltkrieges sind die Isonzo-Schlachten. Das waren zwölf Schlachten zwischen Österreich und Italien, bei denen sich die italienischen Streitkräfte immer wieder langsam vorwärtsbewegt haben. In der zwölften Isonzo-Schlacht 1917 kippt diese Entwicklung: In einer Offensive, deren initialer Angriff mit Giftgas eingeleitet wird, erzielen die Österreicher mit deutscher Unterstützung einen Durchbruch und werfen die Italiener zurück bis an den Fluss Piave. Alle Ergebnisse der vorhergehenden Schlachten sind damit zunichtegemacht. Aber in den Piave-Schlachten 1918 gelingt es den Italienern, die Österreicher wieder zurückzudrängen und schlussendlich zu schlagen. So etwas ist typisch für Abnutzungskriege: Sie wirken häufig sehr statisch, aber in Wirklichkeit laufen im Hintergrund die Ressourcen-Zähler beider Seiten herunter. Bis einer auf Null steht und die Front nachgibt.
Budanow hat auch deutlich gemacht, dass die Ukraine weiter auf Taurus-Marschflugkörper hofft. "Der Taurus würde unser Leben sicherlich einfacher machen." Was wäre die Alternative zum Taurus?
Es gibt eine ganze Reihe von Systemen, die alternativ einsetzbar wären, die meisten könnten von den USA verfügbar gemacht werden. Da gibt es ein System namens JASSM (AGM-158B-2). Bemerkenswert ist, dass Polen gerade eine Zusage über die Lieferung von 800 Marschflugkörpern dieses Typs von den USA bekommen hat. Das wäre ein System, das auch für die Ukraine interessant wäre.
Aber sie bekommen es nicht.
Seit Beginn des Kriegs leidet die Ukraine darunter, dass der Westen nicht "all in" geht. Sie bekommen ein System nach dem anderen, sodass die Russen sich anpassen können und der Effekt verpufft. Damit ist es der Ukraine nicht möglich, unterschiedliche Waffensysteme zusammen wirken zu lassen. Würden die unterschiedlichen Systeme gleichzeitig zur Wirkung kommen, hätten sie ganz andere Effekte. Das gilt auch für die F-16. Diese Kampfjets hätte die Ukraine zu Beginn ihrer Offensive im vergangenen Jahr gebraucht. Jetzt kommen sie für diese Offensivanstrengungen zu spät.
"Die Lage ist ziemlich schwierig, aber sie ist unter Kontrolle", sagt Budanow. Ist das aus Ihrer Sicht eine zutreffende Beschreibung?
Ja, davon kann man ausgehen. Die Vorstöße werden immer noch abgewehrt. Die Russen marschieren zwar langsam voran, aber die Ukrainer sind immer noch Herr der Lage. Aber das ist das Problem des Abnutzungskriegs: Er kann jederzeit umschlagen. Und wenn die Ukraine nicht die Ressourcen bekommt, die sie braucht, wird sie umschlagen.
Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de