Politik

Double-Tap-Taktik Russland wendet in der Ukraine eine in Syrien erprobte Terror-Methode an

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Charkiw leidet bereits seit einiger Zeit unter verstärkten Angriffen der Russen. Am Donnerstag kamen in der Stadt vier Menschen ums Leben.

Charkiw leidet bereits seit einiger Zeit unter verstärkten Angriffen der Russen. Am Donnerstag kamen in der Stadt vier Menschen ums Leben.

(Foto: AP)

Immer häufiger kommen in der Ukraine Ersthelfer ums Leben, weil Russland nach einem Luftangriff eine zweite Rakete auf dasselbe Ziel abfeuert. Die Double-Tap-Taktik ist ein Kriegsverbrechen. Aus Syrien hat Russland Erfahrung damit.

Gleich zweimal hat die russische Armee in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine in den letzten Tagen die Taktik des sogenannten Double Tap eingesetzt: ein militärisches Vorgehen, bei dem das gleiche Ziel zweimal nacheinander angegriffen wird, um beim zweiten Schlag primär Rettungskräfte und Ersthelfer zu treffen.

In der Nacht auf den 4. April geschah dies in der Millionenstadt Charkiw, die derzeit noch häufiger angegriffen wird als sonst. Dort starben insgesamt vier Menschen, darunter drei Mitarbeiter des ukrainischen Katastrophenschutzes DSNS (Staatlicher Dienst für Notfallsituationen). Am darauffolgenden Tag war es Saporischschja, wo ebenfalls vier Menschen infolge eines russischen Doppelangriffs ums Leben kamen.

"Es ist ein schreckliches Muster, das offenbar darauf abzielt, Ersthelfer und Journalisten vor Ort zu töten", kommentierte Bridget Brink, die US-Botschafterin in der Ukraine, den Angriff auf Saporischschja. "Russland muss für diese Verbrechen gegen ukrainische Zivilisten zur Verantwortung gezogen werden."

Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass Russland bei den aktuellen Kriegshandlungen gegen die Ukraine die Double-Tap-Taktik einsetzt. Unter anderem wurde am 7. August 2023 die Stadt Pokrowsk in der Region Donezk mit zwei ballistischen Iskander-Raketen angegriffen. Die erste Rakete traf ein Wohngebäude im Stadtzentrum. Die zweite schlug ebenfalls dort ein, aber erst, als Rettungskräfte bereits vor Ort waren. Zehn Menschen starben.

Für die Retter ein Dilemma

Zuletzt häuft sich der Einsatz solcher Schläge allerdings. Unter anderem wurde eine ähnliche Taktik beim großen Angriff auf Odessa am 15. März verwendet, als 21 Menschen starben und mehr als 70 verletzt wurden. Nach dem damaligen Vorfall ordnete der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko öffentlich an, die Anweisungen bei der Arbeit des Katastrophenschutzes noch einmal zu analysieren und gegebenenfalls anzupassen. DSNS-Sprecher Oleksandr Chorunschyj sagte der ukrainischen BBC-Redaktion, dass erneuerte Anweisungen bereits in die Praxis umgesetzt werden.

Jedoch konnte Chorunschyj nicht sagen, ob diese etwa beim Angriff auf Charkiw am 4. April verletzt wurden oder nicht. "Die Hauptaufgabe der Rettungskräfte ist, auf Hilferufe zu reagieren und eben Bürger zu retten", betonte er im Gespräch mit der BBC. "Deswegen ist es nicht ganz richtig, überhaupt darüber zu sprechen, ob Anweisungen verletzt wurden oder nicht." Tatsächlich stellt die Taktik, die von der russischen Luftwaffe bereits massiv in Syrien eingesetzt wurde, die ukrainischen Rettungskräfte vor enorme Herausforderungen und Dilemmata. Denn sie können nicht darauf verzichten, Menschen zu retten.

Neben der Double-Tap-Taktik setzt Russland laut Chorunschyj aber auch schlicht darauf, gezielt Rettungsstationen zu zerstören. So wurde jüngst eine solche Station im Dorf Ruska Losowa in der Region Charkiw vernichtet. Der DSNS-Sprecher betonte zudem, dass Schläge dieser Art immer Kriegsverbrechen sind. Denn die Genfer Konventionen verbieten es den Kriegsparteien, zivile Objekte sowie Personen, die nicht an Kampfhandlungen aktiv beteiligt sind, anzugreifen. "Die Retter sind unbewaffnete Menschen, die bei militärischen Einsätzen und Kriegen durch das Völkerrecht geschützt sind", sagte Chorunschyj. "Dass die Russen zuletzt gezielt unsere Einheiten beschießen, passt weder in den völkerrechtlichen Rahmen noch in den Rahmen jeglichen Menschenverstandes."

Mehr als 90 Retter wurden getötet

Informationen des ukrainischen öffentlich-rechtlichen Senders Suspilne zufolge sind beim russischen Angriffskrieg bereits mehr als 90 ukrainische Retter getötet worden. Rund 350 wurden seit dem 24. Februar 2022 verletzt. Offensichtlich setzt Russland dabei einerseits generell auf die allgemeine Destabilisierung der Lage in der Ukraine. Andererseits passen solche Schläge zusätzlich zur russischen Strategie, deren Ziel es ist, die ukrainische Bevölkerung zu erschöpfen und zu zermürben. Denn bei den Rettungskräften handelt es sich um hoch qualifizierte Kräfte mit guter Ausbildung im medizinischen Bereich. Diese zu ersetzen, ist nicht einfach - und vor allem ist dies auf die Schnelle und dem gleichen fachlichen Niveau unmöglich. Russland will offenkundig erreichen, dass die Folgen seiner Angriffe noch schwerwiegender werden als bislang und sich dadurch gewissermaßen summieren.

Die Taktik des Double Tap wird schon seit Jahren von Terroristen angewendet, etwa in Israel, wo Anfang der 2000er Jahre nach Selbstmordanschlägen mitunter eine zweite Bombe gezündet wurde, um herbeieilende Helfer zu töten. Auch die Terroristen des Islamischen Staats gingen so vor, etwa bei Anschlägen in Afghanistan oder Anfang 2021 auf einen Markt in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Menschenrechtsorganisationen haben zudem gegen die US-Armee den Vorwurf erhoben, Double-Tap-Angriffe in Pakistan und im Jemen durchgeführt zu haben. Vor allem jedoch wurde die Double-Tap-Taktik im Syrien-Krieg eingesetzt. Noch vor dem offiziellen Eintritt Russlands in den Krieg 2015 fielen die syrischen Streitkräfte damit auf. Laut der NGO Syria Justice and Accountability Centre mit Sitz in Washington, die Menschenrechtsverletzungen durch Kriegsparteien in Syrien dokumentiert, wurden die Häufigkeit und Intensität der Doppelschläge ab 2015 deutlich erhöht.

Nach den Angaben des Zentrums wurden zwischen 2013 und 2021 insgesamt 58 solcher Double-Tap-Angriffe durchgeführt, die vor allem auf die sogenannten Weißhelme, Helfer einer in Syrien aktiven privaten Zivilschutzorganisation, zielten. Die Doppelschläge waren die häufigste Ursache für den Tod der fast 300 gestorbenen Weißhelm-Helfer. Ab 2022, als Russland den großen Krieg gegen die Ukraine begann, wurden die Double-Tap-Angriffe in Syrien nahezu vollständig eingestellt. Nun sind es ukrainische Rettungskräfte, die Hauptopfer dieser höchst fragwürdigen Taktik sind.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen