Herero lehnen Einigung ab "Es ist schmerzhaft, wirklich schmerzhaft"
28.05.2021, 20:03 Uhr
Denkmal zur Erinnerung an den von deutschen Kolonialtruppen begangenen Völkermord an den Herero und Nama im Zentrum der namibischen Hauptstadt Windhoek. Die Inschrift laut übersetzt etwa: "Ihr Blut nährt unsere Freiheit".
(Foto: picture alliance/dpa)
Nach jahrelangen Verhandlungen erkennt Deutschland die Verbrechen an Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 als Völkermord an - und verspricht als "Geste der Anerkennung" einen Milliardenbetrag.
In Namibia sorgt die Einigung für gemischte Reaktionen. Präsident Hage Geingob bezeichnet die Anerkennung des Völkermords als "ersten Schritt in die richtige Richtung". Die Opposition wirft der Regierung lokalen Medien zufolge derweil Schwäche vor - mit dem nötigen Standvermögen, so die Kritik, hätte man mehr erreichen können.
Auch im Herzen der namibischen Hauptstadt Windhoek hat die Einigung hohe Wellen geschlagen. Vor der Christuskirche haben sich am Freitagmorgen Vertreter der Nama und der Herero zu Protesten versammelt. Die angebotene Summe von 1,1 Milliarden Euro Aufbauhilfe über einen Zeitraum von dreißig Jahren wollen sie nicht hinnehmen.
Zu den Demonstrierenden zählt auch Chief Boas Tjingaete. Er ist Pastor und zugleich das traditionelle Oberhaupt von Otjombinde, einer Gemeinde im Osten Namibias. Im Gespräch mit ntv.de spricht er über den Schmerz und die Verluste der Herero und Nama - und erklärt, warum sich die Bevölkerungsgruppen nach wie vor übergangen fühlen.
ntv.de: Chief Boas Tjingaete, Sie sind heute nach Windhoek gekommen, um gegen die Einigung Namibias mit Deutschland zu protestieren.

Protest in Windhoek. Chief Boas Tjingaete, Oberhaupt der Otjombinde Traditional Authority, steht links im Bild.
(Foto: Annika Brohm)
Boas Tjingaete: Ja, denn sie wurde nicht in unserem Sinne getroffen. Wir - die Herero und Nama - stimmen dem Ganzen nicht zu. In all der Zeit hat unsere Regierung nur Leute aus den eigenen Reihen mit den Verhandlungen betraut. Wir Betroffenen konnten die Gespräche nur aus der Ferne verfolgen, denn mit uns wollte sich niemand an einen Tisch setzen. Jetzt haben wir erfahren, dass die deutsche Regierung den Völkermord anerkennen will. Von deutscher Seite selbst haben wir es aber nie direkt gehört. Unsere Leute haben es nur übermittelt.
Was stört Sie besonders an der erzielten Einigung?
Die deutsche Regierung spricht von Restitution und Versöhnung, uns geht es aber um Entschädigung und Wiedergutmachung. Das sind zwei völlig unterschiedliche Sachen. Entschädigungen werden international anerkannt. Das ist der Weg, den gehen wir wollen. Nicht den durch die Hintertür.
Deutschland will Namibia in den nächsten dreißig Jahren 1,1 Milliarden Euro Aufbauhilfe zahlen. Viele Betroffene betrachten diese Summe als "Ausverkauf", wie bei den Protesten zu hören war. Was fordern Sie stattdessen?
Die Summe, über die wir jetzt sprechen, ist bei weitem nicht genug. Dazu kommt, dass wir nicht wissen, wer das Geld schlussendlich bekommen wird. Die deutsche Regierung hat Namibia in den vergangenen Jahren Zuschüsse gegeben, und unsere Regierung hat sie immer wieder hinter ihrem Rücken verschwinden lassen. Wir haben keinen blassen Schimmer, was mit dem Geld passiert ist. Bei den Betroffenen ist jedenfalls nichts angekommen, sie leben immer noch in Armut. Stattdessen bereichern sich Menschen daran, die frei sind und nie Unrecht erfahren mussten. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in der Zukunft so leben müssen, wie wir es heute tun.
Wie würden sie die Situation der Nama und Herero heute beschreiben?
Wir haben in Folge des Völkermordes sehr viel verloren, zunächst einmal unser Land. Wir wurden in Reservate vertrieben, wo wir nun zusammenleben. Auch unser Besitz wurde uns genommen. Als die Deutschen im heutigen Namibia an die Macht kamen, haben sie uns unsere Rinder und Tiere genommen, ohne auch nur einen Cent zu bezahlen. Sie haben uns in die Armut getrieben.
Aber nicht nur Menschen in Namibia sind betroffen. Viele unserer Verwandten sind in die Nachbarländer gezogen. Der Großteil meiner Familie mütterlicherseits lebt in Botswana. Ihre Lebensbedingungen sind grauenhaft. Sie haben ihre gesamte Kultur verloren. Schließlich haben sie ihre Eltern oder Großeltern nie kennengelernt. Sie singen Herero-Lieder, verstehen aber kein einziges Wort - wir müssen uns auf Englisch verständigen. Was soll aus ihnen werden? Auch sie müssen entschädigt werden. Unsere Regierung kümmert sich kein bisschen um sie.
Außerdem, und das ist der wichtigste Punkt: Wir haben unzählige Leben verloren. Die Leben derer, die brutal ermordet worden sind. Gerne würde ich der deutschen Regierung heute sagen: Ihr müsst nichts zahlen, ihr müsst mich nicht entschädigen - bringt einfach nur meine Leute zurück. Aber das geht natürlich nicht. Wie berechnet man den Wert eines verlorenen Menschenlebens? Ist das überhaupt möglich? Wie viele Nachfahren hätte allein ein Toter wohl gehabt? Durch sie bin ich der, der ich heute bin. Meine eigenen Eltern mussten bei null anfangen, um überleben zu können.
Wir könnten 70 Milliarden Euro fordern - selbst das wäre immer noch nicht genug für all die verlorenen Leben, die Ländereien und Tiere, die Kultur.
Wie soll es Ihrer Meinung nach nun weitergehen?
Wir wollen uns an den Verhandlungstisch setzen - wir Betroffenen, nicht nur die Unterhändler - und dann können wir reden und zu einer Einigung kommen, mit der wir alle leben können. Im Moment wird eine Zahl in den Raum geworfen, ohne uns zu fragen - nach dem Motto: Friss oder stirb. Das zeigt uns, dass das Angebot nicht von Herzen kommt.
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will im Laufe des Jahres nach Namibia reisen, um offiziell um Entschuldigung zu bitten. Wie stehen Sie dazu?
Ich frage mich, was der Bundespräsident hier vorhat. Will er das Parlament besuchen und sich entschuldigen? Dort wird er nicht auf die Menschen treffen, um die es eigentlich geht. Wenn er nicht mit den Betroffenen sprechen will, dann kann er auch in Deutschland bleiben. Die deutsche Regierung sucht das Gespräch mit den Falschen.
Wir erheben unsere Stimmen und protestieren, aber innerlich weinen wir. Es ist schmerzhaft, wirklich schmerzhaft. Wir wollen, dass die Welt uns zuhört, dass sie von unserem Schmerz weiß - und versteht, warum wir eine angemessene Entschädigung fordern.
Mit Boas Tjingaete sprach Annika Brohm
Quelle: ntv.de